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Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann im Interview mit der Funke Mediengruppe

Schwerpunktthema: Funke Mediengruppe

Interviews und Gastbeiträge

Aufgewachsen sind Sie in Gelsenkirchen, in einer fünfköpfigen Familie auf 70 Quadratmetern. Ihre Grundschullehrerin wollte nicht, dass Sie Abitur machen. Wem verdanken Sie den Aufstieg zum Justizminister?


Ja, meine kranke Oma lebte bei uns. Später sind wir in ein Zechenhäuschen gezogen. Das Entscheidende war der Rückhalt meiner Eltern. Sie haben immer gesagt, ich solle alles probieren, was ich mir vornehme: Wenn es klappt, ist es gut, wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Im Nachhinein wirkt mein Lebenslauf ziemlich gerade. Aber um ehrlich zu sein, habe ich vor allem die Dinge gemacht, die mir Spaß gemacht haben. Vielleicht etwas intensiver als andere. Aber das Wichtigste war wirklich die bedingungslose Liebe und Unterstützung meiner Eltern.


Im November sind Sie schlagartig bekannt geworden, weil Sie trotz rapide steigender Corona-Zahlen die pandemische Lage beenden und harte Lockdown-Maßnahmen ausschließen wollten. War das ein Fehler?


Die Ampel hat die Bekämpfung von Corona auf eine neue Grundlage gestellt. Ziel war es, die Entscheidungen ins Parlament zu tragen und dadurch transparenter zu machen. Zudem wollen wir Lockdowns und Schulschließungen vermeiden. Teilweise wurde versucht, den Eindruck zu erwecken, als ließe dies das Land schutzlos zurück. Das war meiner Ansicht nach unlauter. Ganz im Gegenteil haben wir als Ampel-Fraktionen effektive und gleichzeitig grundrechtsschonende Instrumente zur Eindämmung der Pandemie zur Verfügung gestellt. Ich nenne nur die bundesweite 3G-Regelung am Arbeitsplatz und im ÖPNV, die Testpflicht beim Besuch von Seniorenheimen sowie eine Pflicht zum Homeoffice. Auch das sind starke Einschränkungen, aber sie sind grundrechtsschonender als ein flächendeckender Lockdown. Fakt ist, dass die Lage in vielen Krankenhäusern nach wie vor sehr angespannt ist. Unser neues Maßnahmen-Paket ist aber glücklicherweise sehr wirksam gegen die vierte Welle der Delta-Variante. Seit es in Kraft ist, haben wir eine sinkende Zahl von Neuinfektionen. Das ist allerdings noch kein Zeichen für Entwarnung. Das gilt insbesondere wegen der neuen Omikron-Variante.


Jetzt warnt der Expertenrat der Bundesregierung vor einer ‚explosionsartigen Verbreitung’ der Omikron-Variante und sieht die kritische Infrastruktur - Krankenhäuser, Feuerwehr, Stromversorgung - in Gefahr. Unterstützen Sie die Forderung der Wissenschaftler, rasch harte Kontaktbeschränkungen zu beschließen?


Wir wissen, dass Omikron sehr viel ansteckender ist als alle anderen Varianten. Über die Frage, ob der Krankheitsverlauf generell milder ist, diskutiert die Wissenschaft noch. Es gibt also ein relevantes Risiko, dass neue Belastungen auf die Krankenhäuser zukommen. Ebenso besteht die Gefahr, dass sehr viele Menschen gleichzeitig krank werden – auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der sogenannten kritischen Infrastruktur. Gegen diese Risiken müssen wir uns seriös absichern. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Kontaktbeschränkungen, die der Expertenrat anspricht, haben wir bereits geschaffen.


Nachbarländer wie die Niederlande sind schon im Lockdown. Kommt es auch in Deutschland wieder zur Schließung von Schulen und Geschäften - und zu Ausgangssperren?


Der Gesundheitsminister hat dies vorerst ausgeschlossen. Wir setzen zudem stark auf unsere Booster-Kampagne. Sie hat bereits einen deutlich größeren Anteil der Bevölkerung erreicht als in anderen Ländern. Es ist die erfolgreichste Impfaktion in Europa. Wir haben in den letzten Tagen durchschnittlich über eine Millionen Impfungen täglich gehabt. In einer dynamischen Lage wäre es jedoch falsch, bestimmte Maßnahmen ein für alle Mal auszuschließen. Für mich ist klar: Wir müssen alles tun, um einen erneuten Lockdown zu verhindern. Schulschließungen können nur Ultima Ratio sein.


Wie feiern Sie dieses Jahr Weihnachten und Silvester – und was raten Sie den Bürgern?


Silvester gehört meiner Frau und mir. Da sind wir traditionell zu zweit. Weihnachten feiern wir diesmal wegen der Pandemie ebenfalls in sehr kleinem Kreis, nur zusammen mit meinen Schwiegereltern. Leicht fällt mir das nicht. Aber ich kann uns allen nur raten: Wir sollten jetzt unsere Kontakte einschränken. Und wir sollten uns regelmäßig testen.


Der Bundestag will über eine allgemeine Impfpflicht entscheiden. Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki will mit anderen FDP-Abgeordneten dagegen stimmen. Und Sie?


Wir haben es hier mit einem sehr kontroversen medizinethischen Thema zu tun. Da darf man es sich nicht zu leicht machen. Wir wollen deswegen nicht als Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen, sondern setzen auf fraktionsübergreifende Gruppenanträge, wie es das Parlament schon bei vergleichbaren Fragen wie der Sterbehilfe oder der Frage von Schwangerschaftsabbrüchen getan hat…


… und kaschieren damit, dass die Ampel-Koalition keine Mehrheit in dieser Frage hat.


Das sehe ich anders. Der Weg über die Gruppenanträge schafft mehr Akzeptanz und ist das angemessenere Verfahren. Solche Debatten gehören zu den Sternstunden des Parlaments. Das ist einer so schwierigen Frage angemessen. Ich persönlich werde mich erst entscheiden, wenn alle Anträge vorliegen. Es gibt einen Antrag, der eine Impfpflicht ablehnt, es wird sicherlich einen Antrag geben, der in Richtung einer allgemeinen Impfpflicht geht. Und es wird wahrscheinlich einen dritten Antrag geben, der mit einer nach dem Lebensalter gestaffelten Impfpflicht arbeitet. Details sind aber noch nicht bekannt.


Ein Ja zur Impfpflicht hieße, Sie werfen Ihre liberalen Grundsätze über Bord?


Die Behauptung übersieht eines: Wir befinden uns in einem Dilemma. Wir haben einerseits das Grundrecht auf körperliche Integrität. Jeder Mensch soll grundsätzlich selbst frei entscheiden, in welche medizinischen Eingriffe er einwilligt oder nicht. Wir sehen andererseits, dass Corona die körperliche Integrität vieler Menschen gefährdet und die persönliche Freiheit massiv einschränkt. Klar ist: Niemand soll gegen seinen Willen mittels physischen Zwangs geimpft werden. Das wäre nach Ansicht vieler Juristen verfassungswidrig. Denkbar wäre es stattdessen, einen Verstoß gegen die Impfnachweispflicht als Ordnungswidrigkeit zu behandeln. Als Sanktion kämen dann Bußgelder in Frage. Denkbar wäre auch, bei der Bemessung die finanzielle Lage im Einzelfall zu berücksichtigen. Wir müssen allerdings auch weiter auf Aufklärung und Überzeugung setzen. Wir brauchen Überzeugungsstrategien für Menschen, die eine ausgeprägte Angst vor der Impfung haben.


Unbestritten ist, die Gegner der Corona-Maßnahmen radikalisieren sich…


Morddrohungen oder im Netz verbreitete Feindeslisten sind gezielte Einschüchterungsversuche. Da sollen Menschen mundtot gemacht werden. Das verstößt gegen die Prinzipien der offenen Gesellschaft. Jeder soll grundsätzlich angstfrei seine Meinung sagen können. Auch das Strafrecht ist hier eindeutig: Wer zu Gewalt aufruft, andere mit Mord bedroht oder Feindeslisten verbreitet, begeht eine Straftat. Dagegen müssen Polizei und Justiz in den Ländern entschieden vorgehen.


Politiker werden mit dem Tod bedroht - Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat das gerade erlebt. Was unternimmt der Staat, um seine Amtsträger zu schützen?


Es darf nicht sein, dass Menschen, die demokratisch legitimiert öffentliche Ämter bekleiden, darüber nachdenken müssen, ob sie sich und ihrer Familie das noch zumuten können. Viele Bundesländer gehen bereits in vorbildlicher Weise gegen solche Vorfälle vor; sei es durch Schwerpunktstaatsanwaltschaften wie in Nordrhein-Westfalen oder Hessen, sei es durch die Einrichtung von Sonderdezernaten gegen Hate-Speech wie in Bayern.


Auf der Plattform Telegram vernetzen sich zunehmend radikale Corona-Leugner und Extremisten. Wie wollen Sie dagegen vorgehen?


Telegram bietet offene Kanäle an und dient daher nicht nur der Individualkommunikation. Es ist insofern auch soziales Netzwerk und unterliegt den entsprechenden deutschen Regeln. Danach muss Telegram einen Vertreter benennen, an den sich deutsche Behörden wenden können, um schnell Auskünfte zur Aufklärung von Straftaten zu erhalten. Die Durchsetzung ist in der Praxis bislang aber schwierig, denn das Unternehmen sitzt in Dubai. Wir legen die Hände aber nicht in den Schoß, sondern treiben die einschlägigen Verfahren weiter voran. Zudem möchte die französische Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr den „Digital Services Act“ abschließen, der die Regeln für soziale Netzwerke in Europa harmonisiert. Auch das wird in Zukunft helfen.


Was ändert das?


Ein gemeinsames Vorgehen macht auf die Betreiber von Telegram mehr Eindruck, als wenn das jedes Land allein versucht. Beim Umgang mit dem IS ist es auf diese Weise gelungen, dass die Kanäle der Terrororganisation einfach abgestellt wurden. Telegram will zudem mit Werbung Geld verdienen. Die Betreiber dürften also ein Interesse daran haben, weiterhin Zugang zum zahlungskräftigen europäischen Markt zu haben. Wir dürfen uns aber nicht der Illusion hingeben, dass wir Hass und Hetze beenden, wenn wir gegen Telegram alle Regeln durchsetzen. Radikale werden sich neue Wege und Plattformen suchen. Wichtig ist deswegen, dass wir besser verstehen, wie und warum sich Menschen im Netz radikalisieren. Wir wissen noch zu wenig darüber. Daher hat mein Haus mehrere Forschungsaufträge dazu vergeben. Das Thema ist viel größer als Telegram.


Herr Buschmann, die Ampel-Koalition will das Land gesellschaftlich modernisieren. Was planen Sie für die ersten 100 Tage?


Rechtspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Hier gibt aus den letzten Jahren einen riesigen Reformstau. Wir wollen etwa das Familienrecht grundlegend modernisieren. Es bildet längst nicht mehr die Realität und Vielfalt des familiären Zusammenlebens ab. Wir werden zudem als erstes den Paragraf 219a des Strafgesetzbuches abschaffen. Er bedeutet für Ärztinnen und Ärzte, die straffreie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, ein strafrechtliches Risiko, wenn sie beispielsweise auf ihrer Homepage oder sonst im Internet sachliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen. Das ist meiner Meinung nach absurd. Denn viele Frauen, die mit sich um die Frage eines Schwangerschaftsabbruches ringen, suchen auch im Netz nach Rat. Dass aber ausgerechnet die fachlich am ehesten zur Aufklärung berufenen Ärztinnen und Ärzte dort nicht informieren dürfen, kann nicht sein. Im Januar werde ich dazu einen Gesetzentwurf vorlegen. Daneben wollen wir die Bürgerrechte stärken. Als eines der ersten Projekte möchte ich daher mit meiner Kollegin Nancy Faeser eine Überwachungsgesamtrechnung auf den Weg bringen und wir wollen in dieser Wahlperiode die Sicherheitsgesetze unabhängig wissenschaftlich evaluieren.

Zwei Menschen, die kein Liebespaar sind, sollen vor dem Gesetz eine „Verantwortungsgemeinschaft“ bilden können. Was planen Sie genau?


Es geht um die Möglichkeit, jenseits der Ehe rechtlich abgesichert Verantwortung füreinander zu übernehmen. Ein solches Modell kann zum Beispiel eine Lösung sein für Menschen, die im Alter ihren Partner verloren haben oder schon lange allein sind und sich fragen, ob sie den Alltag noch ohne Hilfe schaffen. Wenn sich zum Beispiel eine betagte 80-Jährige und eine noch rüstige 70-Jährige für eine Wohngemeinschaft zusammentun, um so lange wie möglich selbstständig leben zu können, dann gibt es viele rechtliche Probleme. Das fängt beim Mietrecht an und geht bis zu Auskunftsrechten beim Arzt. Hier wollen wir Abhilfe schaffen. Ein anderes Beispiel wären zwei Alleinerziehende, die sich gegenseitig unterstützen wollen, die Kinder abwechselnd betreuen und sich im Alltag helfen wollen. Eine solche Wahlverwandtschaft wollen wir auf eine rechtlich abgesicherte Basis stellen. Damit nimmt man niemandem etwas weg, aber vielen machen wir das Leben etwas einfacher.


Die Ampel will das Grundgesetz ändern, das Diskriminierungsverbot soll um die Benachteiligung wegen sexueller Identität ergänzt werden. Dafür brauchen Sie eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Glauben Sie im Ernst, die Union macht das mit?


Niemand darf wegen seiner sexuellen Identität diskriminiert werden. Rechtlich gilt das schon heute. Viele Menschen haben aber die Sorge, dass sich das wieder ändert. Eine ausdrückliche Verankerung im Text der Verfassung würde hier für Klarheit sorgen. Zudem wäre es ein Signal für gesellschaftliche Offenheit. Ich denke, dass man diesen Schritt mitgehen kann, wenn man moderne Volkspartei sein möchte. Daher werde ich mit allen demokratischen Fraktionen das Gespräch dazu suchen.


Ermittler wünschen sich mehr Rechte über fremde Daten, um Kinderpornographie oder Menschenhandel besser verfolgen zu können. Führen Sie die Vorratsdatenspeicherung wieder ein?


Ich lehne die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ab und möchte sie endgültig aus dem Gesetz streichen. Sie verstößt gegen die Grundrechte. Wenn jeder damit rechnen muss, dass vieles über seine Kommunikation ohne Anlass gespeichert wird, dann fühlt sich niemand mehr frei. Daher haben Gerichte die Anwendung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung immer wieder gestoppt. Mein Vorschlag lauter daher: Telekommunikationsanbieter sollen bei einem konkreten Anlass auf richterliche Anordnung hin schnell Daten sichern müssen, damit Polizei und Staatsanwaltschaft sie dann auswerten können. Anders als bei der Vorratsdatenspeicherung, bei der die Daten aller Bürgerinnen und Bürger gespeichert werden, soll das aber eben nur anlassbezogen bei bestimmten Personen erfolgen. Dieses Verfahren soll nur bei dem Verdacht auf das Vorliegen schwerer Straftaten möglich sein. Das wäre rechtsstaatlich sauber und würde den Ermittlern wieder ein Instrument für Aufdeckung von Straftaten in die Hand geben. Das wäre ein Gewinn für Freiheit und Sicherheit zugleich.


Die Gerichte sind seit Jahren überlaststet, die Justiz klagt über einen Verfahrensstau. Wie wollen Sie das lösen?


Der Rechtstaat hängt auch vom Zugang zum Recht ab. Streitfälle müssen möglichst zügig behandelt werden. Wir wollen deswegen als Bund mit den Ländern den Pakt für den Rechtsstaat verstetigen. Damit fließt Geld an die Länder für zusätzliche Richterstellen. Wir wollen darüber hinaus einen Digitalpakt für die Justiz schließen, um die Digitalisierung der der gerichtlichen Prozesse und Angebote zu verbessern.


Welche Entlastung der Justizbehörden erhoffen Sie sich durch die Cannabis-Legalisierung?


Wir haben uns darauf geeinigt, dass in zertifizierten Geschäften Cannabis an Volljährige abgegeben werden kann. Das wird dazu führen, dass viele Ermittlungen nach dem Betäubungsmittelgesetz nicht mehr geführt werden müssen. Das wird einen spürbaren Entlastungseffekt haben. Ich möchte aber betonen, dass das ein Nebeneffekt ist. Das Hauptargument für diesen Schritt ist ein anderes: Wir vertrauen erwachsenen Menschen, dass sie verantwortungsvoll mit Cannabis umgehen können und wollen sie nicht in die kriminellen Strukturen auf der Straße drängen.


Justizminister sind die natürlichen Gegenspieler der Innenminister. Wie kommen Sie mit Ihrer SPD-Kollegin Nancy Faeser klar?


Sie ist sympathisch und pragmatisch. Der Austausch funktioniert wunderbar. Wir haben uns schon viele SMS geschrieben.


Sie leben mit Ihrer Frau in Berlin, sind aber noch oft bei Ihrer Familie im Ruhrgebiet. Was gibt es bei Ihnen zu Hause in Gelsenkirchen, was es in Berlin nicht gibt?


Es gibt dort eine ganz besondere Kombination aus Bodenständigkeit und Offenheit. Diese Offenheit ist anders als im immer fröhlichen Rheinland, wo ich studiert habe: Im Ruhrgebiet wirkt sie rustikaler, aber die Menschen haben alle ein Herz aus Gold.

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