Freiheit ist der Fundamentalwert unserer Verfassung. Die traditionellen Strömungen der Politik in der Bundesrepublik haben das immer gewusst: Die Liberalen tragen die Freiheit im Namen. Die Christdemokratie plädierte für „Freiheit statt Sozialismus". Und schon seit Eduard Bernstein war der Reformsozialdemokratie klar: Demokratie meint Freiheit für alle.
Doch wer heute von politischer Freiheit spricht, muss mit anderen Reaktionen rechnen. Vom „alten ideologischen Krempel" ist die Rede oder vom angeblichen „Hyperliberalismus" der Gegenwart. Gemeint ist damit wohl ein Übermaß an Freiheit. Das wirkt seltsam, da wir angesichts der Pandemie eine Vielzahl tiefster Freiheitseingriffe erleben.
Offenbar gewöhnen wir uns zu sehr daran. Das Empfinden einer „neuen Normalität" schleicht sich ein. Es ankert unser Sensorium für Freiheit auf niedrigem Niveau. Dabei wollen wir doch alle über die Pandemie hinaus das bleiben, was wir sind: ein freiheitlicher Rechtsstaat. Es ist also an der Zeit für ein paar Feststellungen über politische Freiheit.
Freiheit als politisches Prinzip meint die Freiheit des einzelnen Menschen im Zusammenleben mit vielen. Das ist wichtig. Denn die Gegner der politischen Freiheit verweisen gern auf die Freiheit des Robinson Crusoe auf der einsamen Insel, um diese sogleich ad absurdum zu führen oder zum Sehnsuchtsort zu erheben. Doch an einem Ort mit bloß einem Menschen kann es keine politische Freiheit geben. Denn ohne menschliches Zusammenleben kann es keine Politik geben und ohne die keine politische Freiheit. „Zoon politikon", wie Aristoteles den Menschen beschrieb, ist eben ein Geschöpf, das in Gesellschaft lebt. Der Freiheitsbegriff des Robinson Crusoe ist politisch steril. Dem einzelnen Menschen steht er als individueller Lebensentwurf offen, einem menschlichen Gemeinwesen aber nicht. Das gilt insbesondere für moderne Massengesellschaften und erst recht für das globale Dorf des digitalen Zeitalters.
Der Anspruch des einzelnen Menschen auf Freiheit bedeutet, dass die Mächtigen nicht einfach tun können, was sie wollen. In der Demokratie bedeutet das, dass die Mehrheit nicht alles darf, was sie könnte. Genau hier liegt die Unterscheidung zwischen dem, was wir heute in großer Selbstgewissheit „liberale Demokratie" nennen einerseits und was andere in Osteuropa bewusst provokativ als „illiberale Demokratie" ausrufen andererseits. Die Erstere akzeptiert die Grenzen der Mehrheit, die aus der Freiheit des Einzelnen entspringen. Die Letztere hält solche Grenzen für eine Zumutung. Wenn der einzelne Mensch solche Grenzen zu seinen Lasten verletzt sieht, dann ist es in der liberalen Demokratie sein gutes Recht, sich dagegen vor Gerichten zu wehren. Und wenn Gerichte ihm sodann Recht geben, dann sind dort keine „kleinen Richterlein" tätig, sondern Hüter eines freiheitlichen Fundamentalprinzips.
Die Freiheit des einzelnen Menschen mäßigt die Mehrheit. Sie darf in seine Freiheit nicht bloß aufgrund einer selbstgewissen Ahnung eingreifen. Das darf der Staat nur dann, wenn er plausibel und objektiv nach dem Stand des bekannten Wissens nachvollziehbar darlegt, dass damit tatsächlich Rechtsgüter von hohem Wert in verhältnismäßiger Weise geschützt werden können. Die freiheitliche Mäßigung der Mehrheit schützt vor der Anmaßung falschen Wissens.
Freilich kann nicht nur die Mehrheit irren. Die Minderheit kann es ebenso. Anders als bei der Mehrheit folgt daraus grundsätzlich kein politisches Problem. Denn in der Demokratie kann die Minderheit der Mehrheit ihren Irrtum nicht aufzwingen. Im Regelfall trägt die Minderheit die Folgen ihres Irrtums nach dem Verantwortungsprinzip selbst. Freiheit und Eigenverantwortung halten sich die Waage.
Ein hoch ansteckendes Virus steckt die Räume bloßer Verantwortung für sich selbst jedoch enger. Wer keine medizinische Maske tragen oder sich nicht impfen lassen möchte, schadet nicht nur sich und seiner Gesundheit. Er trägt potentiell zur Überlastung des Gesundheitssystems bei und mutet damit anderen möglicherweise schwere Lasten für Leben und Gesundheit zu. Die Freiheit des einzelnen Menschen im Zusammenleben mit vielen verurteilt den Staat nicht zur Untätigkeit. Vielmehr entsteht hier ein objektives Regelungsbedürfnis. Freiheit verlangt jedoch, dass immer wieder hinterfragt wird, ob Freiheitseingriffe verhältnismäßig sind.
Spricht das gegen politische Freiheit? Ganz im Gegenteil! Menschlicher Erfindungsgeist, Tatkraft und Kooperationsbereitschaft blühen in der Sonne der Freiheit besser als in einer Dürre aus Bevormundung und Zwang. Das hat die Entwicklung der Corona-Impfstoffe gezeigt. Wie genau das Virus auf den Menschen übergesprungen ist, werden wir womöglich nie genau wissen. Aber wo die ersten hochwirksamen Vakzine entwickelt wurden, unterliegt keinem Zweifel: in den freien Gesellschaften des Westens. Wir haben sie freiem Unternehmertum und freier Wissenschaft zu verdanken. Wenn es um die Pandemiebewältigung geht, ist Freiheit also nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung.