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„Auch der Mangel an Freiheit macht krank“

Schwerpunktthema: Die Zeit

Justizminister Marco Buschmann über eine mögliche Impfpflicht, die steilen Lernkurven seiner Partei in der Pandemie und die Frage, warum er eigentlich kein Sozialdemokrat geworden ist

Interviews und Gastbeiträge

DIE ZEIT: Herr Minister, Sie tragen nun Verantwortung für ein Thema, das gerade besonders umstritten ist: die Freiheit. Was ist Freiheit für Sie?

Marco Buschmann: Freiheit ist eine Leitidee für das Zusammenleben von Menschen. Danach sollen wir uns gegenseitig möglichst viel Individualität und Selbstverwirklichung zubilligen. Freiheit meint auch eine regulative Idee für Politik, die Menschen dazu anhält, sich gegenseitig möglichst große Verwirklichungsräume zu ermöglichen.

ZEIT: Das Selbsterfahrungsbuch Walden des US-Amerikaners Henry David Thoreau gilt vielen als ultimativer Freiheitsentwurf: ein Mann, der ohne Einwirkung des Staates in der Natur lebt und niemandem Rechenschaft schuldig ist. Können Sie damit etwas anfangen?

Buschmann: Es mag Menschen geben, die diesen Robinson-Freiheitsbegriff für erstrebenswert halten – ich tue das nicht. Freiheit ist für mich in erster Linie Freiheit im Zusammenleben mit anderen Menschen. Denn da treten ja erst die wirklich schwierigen Fragen der Politik auf. Wo keine Menschen zusammenleben, gibt es keine Politik und mithin auch keine politische Freiheit.

ZEIT: Wer sich mit Ihrer Biografie beschäftigt, der könnte sich schon wundern, dass aus Ihnen kein Sozialdemokrat geworden ist. Aufgewachsen im Ruhrgebiet, nicht in Saus und Braus, mit den Eltern in einer Zechenwohnung ...

Buschmann: ... in einem Zechenhäuschen, und das war schon ein Riesenschritt nach vorn, als wir dort einziehen konnten.

ZEIT: Warum reden Sie heute eher über Freiheit und weniger über Solidarität?

Buschmann: Weil ich von vielen Menschen, die der Sozialdemokratie nahestanden, gehört habe, was ich nicht kann, was alles nicht geht, viele Geschichten über Menschen als Opfer ihrer Umstände – auch von manchen Lehrern. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir das hilft. Als Teenager habe ich mich gefragt, ob ich mir überhaupt zutrauen kann, Jura zu studieren. Die Opfergeschichten der Milieutheorie sprachen eher dagegen. Aber meine Eltern und andere Menschen haben mir gesagt: »Na klar! Du hast ordentliche Noten. Du kannst dich ausdrücken. Warum solltest du das nicht schaffen?« Diese liberale Grundhaltung – probier es einfach, trau dir was zu, und wenn Dinge nicht klappen, ist das auch kein Weltuntergang –, die hat mir persönlich im Leben viel gebracht.

ZEIT: Lassen Sie uns konkret werden. Auch bei der Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht geht es um die Abwägung zwischen Freiheit und Solidarität. Wie stehen Sie zur Impfpflicht?

Buschmann: Ich will als Justizminister der Debatte nicht vorgreifen. Wir haben als Regierung gesagt, dass wir – wie bei anderen medizinethischen Themen auch – dem Parlament den Vortritt lassen durch das bewährte Gruppenantragsverfahren jenseits der Fraktionsbindung.

ZEIT: Und doch wüssten wir gerne, was Sie über dieses Thema denken.

Buschmann: Unsere Verfassung schützt erst einmal jeden Menschen davor, dass ihm eine medizinische Behandlung aufgedrängt wird. Andererseits wissen wir alle, wie sehr wir durch die Corona-Pandemie und die Schutzmaßnahmen, die Bund und Länder im Moment ergreifen müssen, in unserer persönlichen Freiheit eingeschränkt sind. Wir sehen die sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden. Wir alle wünschen uns doch einfach, dass die Pandemie und damit auch die Schutzmaßnahmen enden. Die entscheidende Frage lautet: Ist die Impfpflicht der dazu erforderliche Schlüssel? Das ist eine Frage für die Epidemiologie, und dazu müssen alle Fakten mit einbezogen werden. Erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass wir mit Omikron in eine neue Phase der Corona-Pandemie steuern. Wenn es im Februar/März belastbare Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Impfpflicht eine deutliche Vergrößerung des Freiheitsspielraums für uns alle bringt, dann spricht viel dafür. Wenn das Impfen hingegen absehbar nur für zwei, drei Monate helfen sollte, aber ansonsten im Grunde alles bleibt, wie es ist, dann spricht das eher gegen eine Impfpflicht.

ZEIT: Ihr Parteikollege Wolfgang Kubicki sagte kürzlich, manche Befürworter einer Impfpflicht seien nach seinem Eindruck motiviert durch den Wunsch nach »Rache und Vergeltung« an den Ungeimpften. Teilen Sie diese Sorge?

Buschmann: Es ist eine absolut legitime Position, die Impfpflicht abzulehnen. Ich wehre mich dagegen, alle Menschen mit dieser Meinung pauschal an den Rand zu drängen. Bei der Frage, wie man diese Position begründet, gibt es unterschiedliche Stile; Wolfgang Kubicki ist für seinen zuspitzenden Stil bekannt. Ich persönlich würde mir solche Formulierungen nicht zu eigen machen.

ZEIT: Zu Beginn der Pandemie haben zahlreiche Politiker die Impfpflicht ausdrücklich ausgeschlossen. Verstehen Sie, dass viele Menschen jetzt das Gefühl haben, Politiker brächen ihr Wort?

Buschmann: In einer dynamischen Lage mit großen Unsicherheiten sollte man nichts für alle Zeiten ausschließen. Wenn sich die Lage fundamental ändert, muss man Positionen auch mal korrigieren können. Alles andere wäre falscher Dogmatismus.

ZEIT: Von dieser Freiheit machen Sie in der FDP gerade reichlich Gebrauch. Ihre Partei hat sich im Wahlkampf gegen einen Lockdown ausgesprochen, sie hat, noch vor dem Amtsantritt, gemeinsam mit den Ampelparteien die Aufhebung der pandemischen Lage durchgesetzt und wird jetzt mit einer Pandemie-Realität konfrontiert, die Sie, sagen wir mal: in eine steile Lernkurve zwingt.

Buschmann: Eine steile Lernkurve ist doch ein Zeichen von Intelligenz. Das ist ja nichts Falsches. Außerdem gibt es mit der Omikron-Variante eine neue Entwicklung. Trotzdem widerspreche ich dem Eindruck, dass wir keine Veränderung bewirkt haben. Nehmen wir an, die Bundestagswahl hätte ein Jahr später stattgefunden, die alte Regierung wäre noch im Amt. Dann, behaupte ich, wären wir zur Bekämpfung der vierten Welle in einem bundesweiten Lockdown gelandet, mit flächendeckenden Schließungen des Einzelhandels, der Schulen, der körpernahen Dienstleistungen, und dann wäre passiert, was immer passiert: Am Anfang soll der Lockdown drei Wochen dauern, und dann werden drei Monate daraus ...

ZEIT: ... das ist alles rein hypothetisch.

Buschmann: Sicher, aber eine Reihe führender Persönlichkeiten der Union haben sich genau das gewünscht. Wir haben auf ein anderes Maßnahmenpaket gesetzt, beispielsweise auf 3G am Arbeitsplatz und in Bus und Bahn. Das sind auch schwere Belastungen. Das will ich gar nicht kleinreden. Wir haben aber gezeigt, dass wir mit milderen Mitteln in der Lage waren, die vierte Welle zu brechen. Und das, finde ich, ist ein Erfolg.

ZEIT: Was bedeutet das für den Umgang mit Omikron?

Buschmann: Omikron stellt uns vor neue Herausforderungen, aber unsere Ziele bleiben gleich: Einen flächendeckenden Lockdown und Schulschließungen müssen wir möglichst vermeiden. Sollten wegen der Omikron-Variante andere Maßnahmen erforderlich werden, werden wir angemessen und verhältnismäßig reagieren. Wir haben gezeigt, dass wir schnell handeln können.

ZEIT: Als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie vor dem Verfassungsgericht gegen nächtliche Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen geklagt. Mittlerweile sind Sie in der Regierung – und das Verfassungsgericht hat all die erwähnten Maßnahmen für zulässig erklärt. Teilen Sie die Kritik, die sagt, das Verfassungsgericht sei damit als Institution zur Verteidigung der Freiheit ausgefallen?

Buschmann: Diese Kritik geht aus meiner Sicht schon deshalb fehl, weil es Eilanträge gegen Corona-Maßnahmen gab, die vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hatten. Davon abgesehen: Ich bin dafür, dass die Verfassungsorgane miteinander einen offenen und kritischen Dialog pflegen. Aber als Bundesminister der Justiz werde ich für die Arbeit des Gerichts öffentlich gewiss keine Noten verteilen. Das ist eine Stilfrage.

ZEIT: Für den letzten Dialog zwischen Verfassungsgericht und Bundesregierung bei einem Abendessen im Kanzleramt hat es viel öffentliche Kritik gegeben ...

Buschmann: Ein Austausch unter den Verfassungsorganen ist wichtig. Das Gleiche gilt für Fingerspitzengefühl. Mehr möchte ich zu diesem Abendessen gar nicht sagen. Denn das war vor meiner Amtszeit, und ich war nicht dabei. Aber ich will der Frage nach der Entscheidung des Gerichts nicht ausweichen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber in der Pandemielage einen weiten Einschätzungsspielraum eingeräumt. Das ist für den Vertreter einer politischen Mehrheit im Deutschen Bundestag zunächst einmal keine schlechte Nachricht ...

ZEIT: ... ironischerweise profitieren Sie jetzt von Ihrer Niederlage in Karlsruhe ...

Buschmann: ... die Entscheidung verschafft uns großen Spielraum. Sie gibt dem Gesetzgeber viele Möglichkeiten und damit sehr viel Verantwortung. Allerdings: Das Bundesverfassungsgericht hat sehr stark auf die Besonderheiten der Pandemielage im Frühjahr 2021 abgestellt, auch auf den damaligen Stand bei den Impfungen. Das lässt sich nicht ohne Weiteres übertragen.

ZEIT: Es heißt oft, harte Maßnahmen in der Pandemie und erst recht eine allgemeine Impfpflicht könnten zu einer Spaltung der Gesellschaft führen.

Buschmann: Mir gefällt die Metapher nicht. Sie suggeriert, zwei relevante, vielleicht sogar gleich große Teile der Gesellschaft seien derart auseinandergebrochen, dass sie gar nicht mehr miteinander reden können. Das entspricht aber nicht der Situation in Deutschland. Nur weil jemand gegen Corona-Maßnahmen auf die Straße geht, macht ihn das noch nicht zu einem Radikalen. Es muss möglich sein, dass ein Teil der Bevölkerung Unmut bekundet, auch laut und deutlich. Die Frage ist, ob wir die Debatten so führen, dass wir irgendwann gar nicht mehr miteinander sprechen können. Das wäre sehr gefährlich. Natürlich sehe ich auch, dass es einen kleinen Teil der Bevölkerung gibt, der sich immer weiter radikalisiert, bis hin zu Morddrohungen oder der Veröffentlichung von Feindeslisten. Das hat nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun. Im Gegenteil: Hier sollen andere Meinungen mundtot gemacht werden. Das sind Straftaten, und dagegen muss vorgegangen werden.

ZEIT: Viele haben Sorge, dass wir uns an die gegenwärtigen Freiheitseinschränkungen gewöhnen, dass wir vielleicht aus diesem Krisenbekämpfungs-Notstand gar nicht wieder herauskommen.

Buschmann: Das ist eine Sorge, die ich gut nachvollziehen kann. Wir dürfen uns keinesfalls an tiefe Grundrechtseingriffe gewöhnen. Das habe ich auch bei meinem Antritt hier im Ministerium gesagt. Wir müssen tun, was notwendig ist, aber das darf nicht zu einer neuen Normalität werden.

ZEIT: Glauben Sie, dass es eine Rückkehr zur alten Freiheit geben wird? Steuern wir im Moment nicht eher auf ein neues Zeitalter im Umgang mit Recht und Regulierung zu?

Buschmann: Das wäre ein schwerer Fehler. Der Mensch ist nach unserer Verfassung frei. Wenn der Staat in diese Freiheit eingreifen will, muss er das sehr gut begründen. Dieser Gedanke hat nichts von seiner zivilisierenden und humanistischen Kraft verloren. Wir sind jetzt in einer Situation, die hoffentlich nur alle hundert Jahre auftaucht. Ich widerspreche allen, die behaupten, mit einer politischen Mehrheit dürfe man alles beschließen, was wir für nützlich halten, ohne Rücksicht auf das Individuum. Und ich bestreite auch, dass wir dauerhaft in einem Krisenmodus operieren dürften, der das Individuum beiseiteschiebt.

ZEIT: Tatsächlich verändert sich die Interpretation der Freiheit doch gerade, sie wird weniger individualistisch gedeutet; etwa durch das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts. Und man fragt sich, ob das, was wir jetzt in der Pandemiebekämpfung erleben, so etwas ist wie ein Warmlaufen zur Bekämpfung des Klimawandels.

Buschmann: Freiheit ist eine regulative Idee, und regulative Ideen sind immer situations- und zeitgebunden. Deshalb ist es grundsätzlich kein Problem, dass die Grenzen der Freiheit immer wieder neu ausgehandelt werden. Wenn wir allerdings Freiheit nicht mehr als etwas verstehen, was dem Individuum zukommt, sondern der Gesellschaft als ganzer, dann verabschieden wir uns von einer gedanklichen Tradition, die aus dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Und die Erfahrungen aus der Geschichte zweier Diktaturen haben gerade uns Deutschen gezeigt, wie wichtig es ist, den Begriff der Freiheit und der Würde an das Individuum zu knüpfen. Sollten jetzt die Begriffe der Freiheit und der Würde vom Individuum entkoppelt und auf ein Kollektiv übertragen werden, dann wäre das mit großen Gefahren verbunden. Ich würde dem leidenschaftlich widersprechen.

ZEIT: Sie haben einmal sinngemäß geschrieben, wir würden in der Pandemie vieles über die Freiheit lernen. Was haben Sie gelernt?

Buschmann: Zwei Dinge vor allem. Erstens: Ich bin überzeugt, dass man Freiheit nicht nur intellektuell begreifen kann. Der Wunsch, sich auszudrücken, sich auszuleben, Kontakt mit anderen Menschen zu haben, steckt tief im Menschen drin. Wenn diese Freiheit drastisch eingeschränkt ist, kann es Menschen krank machen. Genau das erleben wir in der Pandemie: Es gibt die Krankheit durch das Virus. Aber auch der Mangel an Freiheit macht krank – auf eine andere Art. Wir sehen das in den Kinderpsychiatrien, die überlaufen sind; wir merken das an den Hilferufen sozialpsychologischer Einrichtungen. Zweitens: Die Pandemie hat auch gezeigt, wie zentral rechtsstaatliche Institutionen für den Erhalt der Freiheit sind. Denken Sie etwa an diese bayerische Regelung, dass man plötzlich nicht einmal mehr allein auf der Parkbank ein Buch lesen durfte. Oder nehmen Sie die nächtlichen Ausgangssperren, die von Gerichten aufgehoben worden sind. Selbst wenn solche Maßnahmen populär sind, muss es die Möglichkeit geben, dagegen zu klagen. In der Pandemie wurde uns wieder bewusst, wie wertvoll es ist, dass es jenseits von Mehrheit und Minderheit in der liberalen Demokratie das Korrektiv der Grundrechte, des Rechtsstaats und der unabhängigen Gerichte gibt.

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