Ob Patriotismus ein Wert zum Nutzen oder Nachteil der Menschen sei, darüber wurde in Deutschland viel diskutiert. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte ist das verständlich und auch richtig. Doch auf eines sollten wir uns verständigen können: den Verfassungspatriotismus. Denn für unser Grundgesetz können wir dankbar und, ja, auf unser Grundgesetz können wir stolz sein. Vor allen Dingen wird es den großen Herausforderungen unserer Zeit mehr als gerecht.
Fast auf den Tag genau vor 73 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Es war die umfassendste Zurückweisung der NS-Terrorherrschaft. Denn an seiner Spitze stehen die Würde und die Freiheit des individuellen Menschen. Nicht ein Kollektiv, dem ein Mensch angehört - sei es Rasse oder Klasse - bestimmt seinen Wert. Jeder einzelne Mensch ist ein Wert an sich. Das Arrangement freiheitlicher Institutionen, das unsere Verfassung begründet, führte den freien Teil Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in den Kreis der liberalen Demokratien zurück - und später unser ganzes Volk, das sich durch den Mut und die Kraft der Menschen in Ostdeutschland friedlich wieder vereinen konnte.
Gleichwohl wurde immer wieder der Verdacht laut, dass unsere Verfassung vielleicht einen Überschuss an Idealismus atme. Manche meinten gar, dass die liberale Demokratie des Grundgesetzes vielleicht gar nicht dem Druck großer Krisen gewachsen sei. Dass ein Schuss mehr Autokratie notwendig werden könne, um große Krisen und Herausforderungen zu bestehen. Ein wenig "aufgeklärter Autoritarismus", so die Idee, könne gewiss nicht schaden. Doch nichts hat sich so sehr als falsch herausgestellt.
An Krisen und Herausforderungen für die Ordnung des Grundgesetzes mangelt es heute nicht. Man könnte sagen: Noch nie seit der unmittelbaren Nachkriegszeit waren wir so vielen Herausforderungen zugleich ausgesetzt. Denn erstmals seit Jahrzehnten galoppieren, um ein Bild aus der Offenbarung des Johannes zu gebrauchen, wieder alle vier Reiter der Apokalypse, die für die Urängste der Menschheit stehen, über unseren europäischen Kontinent hinweg.
Mit dem vierten Reiter haben wir uns mehr als zwei Jahre herumgeschlagen, und wir müssen noch immer wachsam sein. Er steht für Krankheit und Seuchen. Corona hat Politik und Alltag lange im Griff gehabt. Und niemand kann sicher sagen, ob es das nicht wieder tut. Einige dachten, dass autoritäre Staaten wie China einen Vorteil besäßen, um Pandemien zu bekämpfen. Doch in der Sonne der Freiheit gediehen weit wirksamere Impfstoffe als in den Autokratien Russlands oder Chinas. Während die Ordnung des Grundgesetzes, die durch Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz geprägt ist, Lösungen ermöglichte, die fallende Zahlen und relative Normalität miteinander vereinbar machten, fällt China zunehmend chaotischen Zuständen anheim. Sie sind die Folge einer maßlosen "Zero Covid"-Politik und harter Lockdowns.
Der dritte Reiter auf dem schwarzen Pferd trägt eine Waage. Sie steht für Teuerung, Inflation, Mangel, Armut und Hunger. Schon vor Putins völkerrechtswidrigem Krieg gegen die Ukraine mussten wir uns Gedanken machen, wie wir unseren Wohlstand bewahren. Nun führen die Zustände an den Energiemärkten zu massiven Teuerungen und Wohlstandsverlusten. Die weltweit einsetzende Knappheit an Weizen und anderer Lebensmittel bedeutet bei uns steigende Preise. Sie macht uns ärmer. In Teilen des afrikanischen Kontinents führt sie im schlimmsten Fall zu Hungerkatastrophen und tausendfachem Tod. Das alles zwingt uns zu einer Neujustierung der Globalisierung, zu einer Reduzierung von Abhängigkeiten und zu einer Neuaufstellung hierzulande. War "degrowth", also die Abwendung vom politischen Ziel wirtschaftlichen Wachstums, bislang eine für manchen schicke Idee, wirkt sie angesichts der neuen Knappheiten absurd und aus der Zeit gefallen. Die Grundrechte der Berufsfreiheit und der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes konstituieren in Verbindung mit Regelungen des europäischen Primärrechts eine marktwirtschaftliche Grundordnung. Sie ist in der Lage, Mangel nicht bloß zu verwalten, sondern durch Wachstum zu überwinden. Daran müssen wir arbeiten.
Der zweite Reiter sitzt auf einem roten Pferd. Es steht für Blutvergießen, für Krieg, Gewalt und Tod - also genau das, was seit drei Monaten direkt an der Außengrenze der Europäischen Union auf dem Boden der Ukraine stattfindet. Deutschland erlebt hier eine sicherheitspolitische Zeitenwende. Auch auf sie ist das Grundgesetz vorbereitet. Ausdrücklich gibt unsere Verfassung in ihrer Präambel der Politik das Ziel vor, "dem Frieden in der Welt zu dienen". Es bekennt sich zur Europäischen Union und zu Systemen "gegenseitiger kollektiver Sicherheit" (Artikel 24 Absatz 2) wie der Nato. Insofern ist es nur konsequent, dass Deutschland seine Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit erhöht. So können wir glaubwürdig unseren Partnern beistehen und das unmissverständliche Signal senden, dass sich ein Angriff auf die Europäische Union, die Nato und auch die Ukraine niemals lohnen kann. Denn wo gemeinsame Werte wie Frieden, Freiheit und Völkerrecht als Verständigungsbasis mit möglichen Aggressoren wegbrechen, bleibt vorerst nur die Drohkulisse des "tit for tat".
Und es gibt den ersten Reiter auf dem weißen Pferd. Er steht für die Unterdrückung und Verfolgung durch Tyrannen. Die Gewaltherrschaft des Kreml und die weltweite Renaissance des Autoritarismus zeigen, dass die Angst vor dem Reiter auf dem weißen Pferd keine bloße Einbildung ist. Im Grunde gilt die Warnung des US-Präsidenten Harry S. Truman aus dem Jahr 1947 wieder neu: die Warnung, die er mit Blick auf das stalinistische Russland aussprach, vor einem System, in dem eine Minderheit - seien es Parteibonzen oder Oligarchen - die Mehrheit unterdrückt, die Institutionen die Mächtigen nicht mäßigen, sondern ihnen bei der Unterdrückung der Mehrheit assistieren, in dem es keinen Respekt vor der Würde und der Freiheit des einzelnen Menschen gibt und das nicht mit seinen Nachbarn friedlich Handel treibt, sondern sie überfällt, demütigt und quält. Das Grundgesetz ist auch eine Zurückweisung dieser Art des Totalitarismus.
Die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen sind kein Auftrag, der irgendwann einmal für immer erledigt ist. Sie lassen sich nicht abhaken. Es gibt kein Ende der Geschichte, und daher gibt es auch kein Ende der Frage, was Freiheit und Würde des einzelnen Menschen in der jeweils aktuellen Gegenwart bedeuten. Wenn wir heute fragen, welches Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der digitalen Welt angemessen ist, welches Familienrecht der gesellschaftlichen Wirklichkeit besser entsprechen könnte, ob es Minderheiten gibt, denen unsere Rechtsordnung vielleicht noch nicht mit dem angemessenen Respekt gegenübertritt, dann erfüllen wir genau diesen ewigen Auftrag unserer Verfassung.
Einige meinen vielleicht, dass diese Fragen angesichts des Galopps der vier apokalyptischen Reiter nicht mehr so wichtig seien. Denen ist zu sagen: Der Tyrannenstolz, der einen Krieg und infolgedessen weltweite Armut und weltweiten Hunger auslöst, richtet sich nicht allein darauf, ein Stück Land zu erobern. Er richtet sich gegen den Willen der Ukraine, eine Ordnung zu errichten, die in die gleiche Verfassungsfamilie wie das Grundgesetz gehört: eine liberale Demokratie. Dieser Verfassungsfamilie ist die Frage nach der Würde und der Freiheit des individuellen Menschen gemein. Sollten wir angesichts des Krieges in der Ukraine aufhören, an diesem Auftrag zu arbeiten, dann hätte Putin schon ein Stück gewonnen. Das darf nicht sein. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebes Grundgesetz!