Am 24. Juni 1922 ermordeten rechtsradikale Terroristen den deutschen Außenminister Walther Rathenau. Wie immer unter Verzicht auf besondere Sicherheitsmaßnahmen fuhr er an jenem Tag in seinem offenen Auto auf der Koenigsallee in Berlin-Grunewald, um ins Auswärtige Amt zu gelangen. Zwei junge Männer, Mitglieder der „Organisation Consul“, überholten. Zuerst schossen sie mit einer Maschinenpistole auf Rathenau. Dann warfen sie eine Handgranate in seinen Wagen. Die Wirkung war verheerend. Eine Krankenschwester war zufällig in der Nähe. Doch sie konnte nichts mehr für Rathenau tun. In ihren Armen verblutete der schwerverletzte Mann. Das Bild mutete an wie eine Pietà – die stilisierte Darstellung des toten Christus in den Armen seiner Mutter. So jedenfalls beschrieb Alfred Kerr, der große Feuilletonist, Kritiker und ein Freund Rathenaus, später das furchtbare Ereignis.
An diesem Tag wurden Worte zu Taten. „Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau!“ Den Satz hatten die rechtsradikalen Freikorpssoldaten in der jungen Weimarer Republik immer wieder skandiert. Rathenau stand für alles, was sie hassten: für Großindustrie und Bankenwelt, persönliche Liberalität und Internationalität, breiteste Bildung und frei schwebende Intellektualität – und eben: Er war Jude. Als solcher war er der erste und blieb er seither der einzige in einem deutschen Ministeramt auf Reichs- und Bundesebene. Und als solcher blieb er Zeit seines Lebens angefeindet.
Rathenau selbst identifizierte sich wie viele Angehörige seiner Generation weniger mit seinem Jüdisch-Sein. Doch er stieß immer wieder auf die diskriminierende Grundhaltung von Staat und Gesellschaft in Deutschland. Er wurde in Berlin geboren, war ältester Sohn des Gründers der „Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft“ (AEG) Emil Rathenau, später deren Aufsichtsratsvorsitzender und Präsident, dazu Vorstand einer Berliner Großbank. Insgesamt durchaus deutsch-patriotisch gestimmt, blieb Walther Rathenau wie allen Juden im Kaiserreich der Aufstieg in Militär oder Staatsdienst verwehrt. Über die Grunderfahrung dieser Diskriminierung schrieb er selbst einmal: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“ Allerdings schien es Rathenau im Laufe seines Lebens doch zu gelingen, dieses Joch abzuwerfen.
Seine politische Laufbahn
Im Mai 1921 wurde er zum Wiederaufbauminister im Kabinett des Reichskanzlers Joseph Wirth ernannt. Das Amt wurde ihm aufgrund seiner Arbeit in verschiedenen Wirtschaftskommissionen der Nachkriegsjahre und seiner internationalen Beziehungen angetragen. Wegen seiner Verbindlichkeit und seines Geschicks in den Verhandlungen um die Reparationsfragen wurde er dann schon im Januar 1922 zum Außenminister ernannt. Wenn in der jungen Demokratie ein Jude Minister werden kann, so hofften damals viele, dann werde auch die systematische Diskriminierung eines Tages ein Ende nehmen.
Der rechtsradikale Terror nahm sich Rathenau aber nicht nur zum Ziel, weil er Jude war. Rathenau war auch Liberaler und nach dem Krieg einer der Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei. Er und seine Partei bekannten sich vom liberalen Standpunkt her vorbehaltlos zur parlamentarischen Republik. Rathenau setzte sich publizistisch und in seinen Ämtern für Aussöhnung und einen dauerhaften Frieden für Europa ein. Seine konzeptionelle und praktische Arbeit für internationale wirtschaftliche Verflechtung folgte seiner Lebenserfahrung.
Als Unternehmer mit weltweiten Kontakten in die Industrie und Finanzwelt war er selbst die Personifizierung jener ersten Globalisierung, die um 1900 einsetzte. Schon vor dem Krieg schrieb er von der nötigen und möglichen Verschmelzung der europäischen Wirtschaft als der Grundlage der Verschmelzung auch der europäischen Politik – und bot im Krieg dann der Politik entsprechende Pläne an.
All das war der Ideologie der sogenannten „Konservativen Revolution“ zuwider, die damals das rechte Denken beherrschte. Intellektuelle wie Werner Sombart predigten, dass die Deutschen „Helden“ und keine „Händler“ seien. Ein Jahr nach Rathenaus Ermordung erschien Arthur Moeller van den Brucks Buch „Das dritte Reich“, das eines der meistgelesenen Werke unter den „konservativen Revolutionären“ werden sollte.
Hassfigur aller Rechtsradikalen
Fritz Stern, der große Historiker, schrieb später über diese Bewegung: „Sie griffen den Liberalismus deshalb an, weil sie in ihm die wichtigste Voraussetzung der modernen Gesellschaft sahen. Alles, was sie fürchteten, schien in ihm zu wurzeln: die Bourgeoisie, das Manchestertum, der Materialismus, der Parlamentarismus und das Parteiwesen, der Mangel an politischer Führung. Ja, sie machten den Liberalismus für all das verantwortlich, worunter sie im innersten litten.“
Rathenau war aber nicht nur den harten Rechten ein Dorn im Auge. Er mutete auch gemäßigteren Kreisen intellektuell viel zu. Denn er wollte Brücken zwischen den Demokraten bauen und suchte daher nach Ausgleich mit der Sozialdemokratie. An die Stelle des Klassenkampfes sollte fortschrittliche Reformpolitik treten. Manches davon klang – auch für damalige Ohren schon – nicht immer liberal. Aber das mochte auch täuschen. Denn in vieler Hinsicht hätte Rathenau wohl die Wege gutgeheißen, die dann später die Bundesrepublik zu jenem Ziel der sozialen Marktwirtschaft gegangen ist: mit ihrer Austarierung von Eigentum und sozialer Verantwortung, von regulierender Marktordnung und Freiheit, von Eigeninitiative und staatlichen Zielvorgaben.
Vordenker der sozialen Marktwirtschaft
Vielleicht hat er früher als andere gespürt, dass sich der im 19. Jahrhundert geprägte Liberalismus für die neue Welt des 20. Jahrhunderts erneuern musste. Etwa 16 Jahre nach seinem Tod kamen diesem Anliegen gleich eine ganze Reihe prominenter Denker anlässlich des „Walter-Lippmann-Kolloquium“ nach, prägten den Begriff des „Neoliberalismus“ und umschrieben damit das theoretische Fundament der sozialen Marktwirtschaft.
Hass und Hetze gegen Rathenau setzten auch an der Reparationsfrage nach dem Ersten Weltkrieg an. Er war es, der entscheidend für das Eingehen auf französische Forderungen plädierte. Denn nur im guten Einvernehmen mit Frankreich schien ihm eine gute Zukunft für ein europäisches Miteinander möglich, und nur so lasse sich für Deutschland international wieder Vertrauen gewinnen. Mit ihm persönlich verband sich daher sogleich das Schmähwort der „Erfüllungspolitik“, die so giftigen tödlichen Hass auf sich zog – und die doch einfach meinte, mit demonstrativ gutem Willen Forderungen erfüllen zu wollen, auch um gerade ihre Unerfüllbarkeit zu demonstrieren.
Hugo Stinnes, der Industrielle und Architekt des Friedensschlusses von Arbeitgebern und Arbeitern nach dem Krieg, war es, der gegen diese Politik den fatalen Satz sagte, der spätestens die Bahn zum Mord an Rathenau öffnete: „Aus einer fremdländischen Psyche heraus“ hätten die Verantwortlichen „den deutschen Widerstand gegen unwürdige Zumutungen gebrochen“. Das war eindeutig rassistisch gegen Rathenau gerichtet – und traf ihn schwer, der sich selbst als Deutscher fühlte wie nur irgend jemand.
Der antisemitische Hass im rechten Lager fokussierte sich nun auf ihn; und er wusste und sprach es Anfang 1922 aus, „dass mein Leben ständig bedroht ist“. Gerettet hat Rathenau diese Erkenntnis nicht. Geholfen hat ihm auch nicht, dass er in seinem Deutschland geistig tief und breit verwurzelt war. Als Intellektueller und Publizist hatte er sich im Kaiserreich, vor dem Krieg, allem Neuen in Kunst und Kultur zugewandt.
Er war befreundet mit Schriftstellern von Gerhart Hauptmann bis Stefan Zweig, mit Theatermachern von Max Reinhardt bis Frank Wedekind, mit Gelehrten und Malern – er selbst war ein Neffe von Max Liebermann. Vieles davon hat er geistig und mäzenatisch gefördert. Über vieles hat er geschrieben. In erstaunlich vielen Bereichen besaß er große Kennerschaft und traute sich auch praktische Versuche zu – in Literatur, Theater, Philosophie, bildender Kunst, Architektur oder Musik. Überall hat er die Umbrüche und Aufbrüche gespürt und ihnen die Wege mit bereitet. Er hat sich stets der Moderne zugewandt, aber auch „Mechanisierung“ und „Entseelung“ kritisiert, die er in ihr walten sah – in Übereinstimmung mit der intellektuell vorherrschenden Kultur- und Zivilisationskritik der Zeit um 1900.
In Rathenaus politischer Publizistik sind es neben dem Konzept der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung als Grundlage friedlichen Miteinanders – ein Konzept, das mit Putins Angriffskrieg keineswegs rundheraus obsolet geworden ist – vor allem gesellschafts- und bildungspolitische Gedanken, die uns bis heute inspirieren können. Er hatte für das kommende Deutschland schon im Kaiserreich eine Gesellschaft der Mittelschicht vor Augen und einen Aufstieg von Proletariat und Arbeitern in diese Mittelschicht – und zwar durch Fleiß, Bildung und Leistung. Er hielt eine Gesellschaft für notwendig, in der das neue selbstbewusste, gebildete, industrielle, städtische Bürgertum die politische Verantwortung übernahm.
Das Parlament als Schule
So ging es ihm, in vielgelesenen Einzelpublikationen wie in großen Zeitungsaufsätzen, immer wieder um „Wandlung der Unterworfenheit in Mitbestimmung und Führungsanspruch“. Solche Verantwortung und Mitbestimmung musste trainiert werden. Auch vor diesem Hintergrund trat er 1917 in seinem Bestseller „Von kommenden Dingen“ für die Parlamentarisierung des Deutschen Reichs ein und nannte den Parlamentarismus eine „Schule der Persönlichkeit“. Auch seine Bewunderung Englands kam von dorther. Denn ein „tätiger und wohlhabender Mittelstand von enormer Ausdehnung“ liefere dort „einen Nachwuchs an Menschen, die Verantwortlichkeit erstreben und ertragen“, wie Rathenau 1912 schrieb.
In den zwei Jahrzehnten nach 1900, in denen im Gefühl der Zeitgenossen alles ins Wanken geriet und sich gewaltige Veränderungen vollzogen, suchte Rathenau neu nach den Zielen, die sich Deutschland und Europa in allen Umwälzungen setzen könnten – und nach den Wegen dorthin; und er suchte danach auch in intensivem gemeinsamem Denken mit anderen reformerischen Intellektuellen seiner Zeit, im Krieg etwa in den Reformdiskussionen der überparteilichen „Deutschen Gesellschaft 1914“. Er wollte schöpferisch nach vorn gehen „in einer Zeit, die sich neu gebiert“, wie er 1919 schrieb, und dabei Barrieren einreißen zwischen Wirtschaft, Politik und Publizistik.
Am 23. Juni 1922 setzte Karl Helfferich, der Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei, im Berliner Reichstag zu einer demagogischen Hasstirade an. Er hetzte, dass diese ‚undeutsch‘ Regierung, namentlich der Außenminister, angeblich die Hand reiche zu einem alliierten „Programm von Ruinen und Tod“ des deutschen Volkes. Er zeichnete das Bild verbrecherischer und charakterloser Unterwürfigkeit und schloss: „Die Rettung wird kommen, wenn die Welt begriffen hat, dass sie es in Deutschland wieder einmal mit Männern zu tun hat!“ Am Tag darauf erlag Walther Rathenau, 54-jährig, dem Hass, der so geschürt war.