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Auf Kurs Richtung Realpolitik

Schwerpunktthema: Tagesspiegel

Gastbeitrag von Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann

Interviews und Gastbeiträge

Es gibt Zeitenwenden. Sie sind häufig mit schmerzhaften Lernprozessen verbunden – für ganze Gesellschaften und auch einzelne Menschen. August Ludwig Rochau war ein solcher Mensch. Vor 149 Jahren, am 15. Oktober 1873, ist er verstorben. Doch sein Denken ist gerade heute von vitalem Interesse. Denn es bietet Inspiration für eine richtig verstandene Realpolitik, die unsere Gegenwart leider bitter nötig hat.

Rochau startete sein politisches Leben als glühender Idealist. Er nahm als Student am Sturm auf die Frankfurter Hauptwache teil, einem ersten Auflodern der demokratischen Revolution in Deutschland. Später arbeitete er als Journalist für liberale Zeitungen. Schließlich war er Mitglied des Vorparlaments von 1848 in der Frankfurter Paulskirche.

Rückschläge und Enttäuschungen der demokratischen Bewegung in ganz Europa – und davon gab es Mitte des 19. Jahrhunderts viele – ließen ihn nicht verbittern. Gereift nach Jahren in der aktiven Politik schrieb er ein Buch, das im Jahr 1853 einen neuen Begriff in das politische Denken Deutschlands einführte: „Grundsätze der Realpolitik“. Es wurde ein Bestseller.

Die Überlegungen, die Rochau seinem Werk voranstellt, erinnern uns verblüffend an unsere Gegenwart: Er fürchtete einen Krieg im Gebiet der heutigen Ukraine, der kurz nach Erscheinen als Krim-Krieg tatsächlich ausbrach. Das traf die damals wichtigste Handelsnation Europas – es war nicht Deutschland, sondern Großbritannien – völlig unvorbereitet: militärisch und wirtschaftspolitisch. Denn man war in London fest davon überzeugt, dass die vorteilhaften Handelsbeziehungen der Staaten untereinander einen Krieg dauerhaft unmöglich machten. Als Ursache des gesamten Chaos identifizierte Rochau einen Politiker, der ursprünglich demokratisch gewählt wurde, sich dann aber zum Diktator aufschwang. Damals meinte er Napoleon III.

Rochau wollte der europäischen Zeitenwende, die er erspürte, mit einer neuen „Realpolitik“ eine gute Richtung geben. Sein Realismus war keine Beliebigkeit mit Blick auf politische Ziele. Erst recht war dieser Realismus kein taktischer Opportunismus. Rochaus Konzept war ein Realismus, der danach trachtete, dem Richtigen zur Stärke zu verhelfen in einer Welt, in der man eben Stärke benötigt, um das Richtige gegen das Falsche durchzusetzen. Er war der erste Stratege der liberalen Demokratie in Deutschland.

Rochau lehrte, „dass das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt“. Das „Recht des Stärkeren“ sei aber ein „Fehlschluss“. Freilich brauche das Recht eben die Stärke, um sich Respekt zu verschaffen.

Genau da müssen wir heute anknüpfen: Wenn Deutschland seine durch das Grundgesetz begründete Werteordnung, die geprägt ist durch die Würde des Menschen, individuelle Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie, auch in Zukunft leben möchte und die Europäische Union ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bleiben soll, dann müssen wir die nötige Stärke dazu besitzen. Für eine solche wertegebundene Realpolitik sehe ich fünf Aufgaben.

Erstens: Die Weltgeschichte lehrt, dass die drei wichtigsten Quellen der Stärke Wohlstand, Innovationskraft und Militär sind. Wer dauerhaft die dritte Quelle ignoriert, motiviert andere, sie zu nutzen. Das hat der völkerrechtswidrige Angriff Putins auf die Ukraine gezeigt. Daher ist das Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro so wichtig. Es geht aber nicht nur um Geld, sondern auch um Innovationskraft: Moderne Elemente der Kriegsführung wie Drohnen, Cyberwar oder autonome Waffensysteme verändern die militärische Taktik grundlegend. Europa und auch Deutschland müssen hier den Anspruch haben, nicht nur mit der Entwicklung mitzukommen, sondern einen gewichtigen Beitrag in seinen Verteidigungsbündnissen zu leisten.

Zweitens: Ohne Wohlstand gibt es keine Sicherheit. Das gilt nicht nur, weil Militär auf der Höhe der Zeit viel Geld kostet. Es gilt auch, weil Wohlstand die Chance verschafft, wirtschaftliche Konflikte durchzuhalten und durch die Abfederung sozialer Härten den Zusammenhalt der Gesellschaft auch in Krisen zu gewährleisten. Das ist das Ziel etwa des Abwehrschirms gegen den russischen Energiekrieg gegen Europa. Spätestens jetzt müssen die letzten, die noch von Degrowth träumen, also der Idee, dass wir unseren Wohlstand eher gezielt reduzieren als uns um seine Sicherung und seinen Ausbau zu kümmern, die Segel streichen. Denn wer Degrowth verkündet, bläst zum geopolitischen Rückzug. In den Ohren eines dynamisch an die Weltspitze drängenden Chinas klingt das wie Unterwerfung. In den Ohren der mit China im geopolitischen Wettbewerb stehenden USA klingt das wie Unzuverlässigkeit im Bündnis. Wer perspektivisch beim Wachstum ausfällt, fällt auch bei Innovation und militärischen Fähigkeiten aus. Ein solches Land verliert seine Stärke und wird von Akteur zum bloßen Spielball der internationalen Politik – und mit ihm seine Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.

Drittens: Die liberalen Demokratien der Welt müssen ein echtes Bündnis auf der Basis gemeinsamer Werte und dem Ziel der Stärke bilden. Der Optimismus der 1990er Jahre, dass sich Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte und Rechtsstaat mit ihrer ungeheuren Attraktivität weltweit quasi von selbst durchsetzen, ist lange vorbei. Hard Power allein genügt nie, aber nur soft power eben auch nicht. Das heißt nicht, dass wir unsere Werte mit militärischen Operationen einfach durchsetzen wollen. Afghanistan hat gezeigt, dass das eine Illusion ist. Es heißt umgekehrt aber auch nicht, dass wir die Überzeugung aufgäben, dass Freiheit, Demokratie und Menschenrechte allen Menschen und allen Gesellschaften ein besseres Leben bieten und ihnen auf der Basis der Menschenrechte letztlich zustehen. Diesen Universalismus geben wir nicht auf – und die regelbasierte internationale Ordnung verteidigt sich auch jetzt gegen ihre Missachtung durch Russland. Ein echtes Bündnis der liberalen Demokratien aber heißt, dass wir auf der Basis glaubwürdiger Verteidigungsfähigkeit unsere freiheitliche Ordnung robust zur Geltung bringen und sie in unseren Beziehungen zur übrigen Welt und vor allem den neoautoritären Gegenkräften behaupten.

Viertens: In Anbetracht der Herausforderungen können wir uns nach Innen unsere Langsamkeit nicht mehr leisten. Wir brauchen auf allen Ebenen ein höheres Innovationstempo. Was Deutschland bei Planung, Genehmigung und Errichtung von LNG-Terminals in Norddeutschland erreicht hat, muss die Blaupause für mehr werden: Infrastruktur, Verwaltungsmodernisierung, Konversion von Forschung in Anwendung und von Kapital in Fähigkeiten.

Fünftes: Fehler, die wir im Verhältnis zu Russland erkannt haben, dürfen wir im Verhältnis zu China nicht wiederholen. Wer heute die Abhängigkeit von russischem Gas beklagt, in die wir uns als Land hineinmanövriert haben, muss auch die gegenwärtige Abhängigkeit der Energiewende in Deutschland von chinesischen Komponenten erkennen. Heute gibt es kaum ein Solarpanel, das nicht aus China stammt. Den Konflikt zwischen China und Taiwan dürfen wir dabei nicht unterschätzen. Denn hier geht es um mehr als historisch verbrämte Territorialansprüche. China hat das Ziel technologischer Autonomie. Ein wichtiger Baustein, der ihm dazu fehlt, befindet sich in Taiwan: die Fabriken der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company – einer der wichtigsten Chip-Hersteller der Welt. Wer dieses Problem ignoriert, verschließt die Augen vor dem nächsten geopolitischen Großkonflikt und nimmt sich die Chance, für diesen strategische Vorkehrungen zu treffen.

Eine neue Realpolitik im Geiste August Ludwig Rochaus sucht und nutzt die Quellen politischer Stärke – damit der Autoritarismus in der Welt starke Gegner hat.

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