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„Wenn sich die Welt verändert, muss sich auch die Politik verändern"

Schwerpunktthema: ZEIT ONLINE

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht über mehr Rechte für trans Personen und den Atomkraft-Wiedereinstieg. Politik müsse in der Lage sein, sich zu korrigieren.

Interviews und Gastbeiträge

ZEIT ONLINE: Herr Buschmann, in Berlin wurden in der Silvesternacht zahlreiche Einsatzkräfte mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Wird es politische Konsequenzen geben?

Dr. Marco Buschmann: Dass gerade Einsatzkräfte, die anderen Menschen zur Hilfe eilen, mit Böllern beschossen werden, ist völlig inakzeptabel. Bei solchen Delikten wie versuchter und vollendeter Körperverletzung sowie bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sind schon heute Freiheitsstrafen bis zu mehreren Jahren möglich. Entscheidend ist, dass die Gerichte die bestehenden Strafrahmen nutzen, um angemessene und zugleich hinreichend abschreckende Strafen zu verhängen. Ich habe den Eindruck, dass es an Silvester eine besondere Ballung des Problems in Berlin gab. Insofern stelle ich mir schon die Frage, ob nicht auch die Sicherheitskonzepte des Berliner Senats ein Teil des Problems sind.

Unionsfraktionsvize Jens Spahn sagt, statt über Böller müssten wir über Migration reden. Hat er recht?

Es ist zu kurz gesprungen, pauschal von einem Migrationsproblem zu sprechen. Wir brauchen schließlich Migration und Fachkräfte – aber natürlich auch gelingende Integration. Es gibt ganz offensichtlich Gewalttäter, die hier ihren Frust entladen und keinen Respekt vor unseren Regeln und dem Staat zeigen. Wenn der Rechtsstaat so vorgeführt werden soll, wie es einige in der Silvesternacht probiert haben, muss er Zähne zeigen. Da braucht es für alle Täter schnelle und konsequente Strafen. Sollten darunter Personen ohne Aufenthaltsrecht sein, müssen auch die rechtlichen Möglichkeiten zur Ausweisung und Abschiebung genutzt werden.

Heute trifft sich Ihre Partei zum Dreikönigstreffen. FDP-Chef Christian Lindner wird im Staatstheater Stuttgart eine programmatische Rede halten, es gibt Königsdarsteller, die Weihrauch versprühen. Braucht die FDP diese Tradition als Selbstvergewisserung in Zeiten schlechter Umfragewerte?

Der Geist des Dreikönigstreffens geht zurück bis zur Demokratischen Revolution von 1848, fand erstmals 1866 statt und war ein wichtiger Beitrag zur Bildung einer demokratischen Öffentlichkeit. Gerade wir Deutschen tun gut daran, die demokratischen und freiheitlichen Traditionen in unserer Geschichte zu pflegen. Das abgelaufene Jahr hat gezeigt, dass Freiheit die stärkste Inspirationsquelle des Individuums ist – schauen Sie nur auf den tapferen Freiheitskampf in der Ukraine oder darauf, wieviel besser die freiheitlichen Demokratien durch die Corona-Pandemie kamen etwa im Vergleich zum autoritär agierenden China.

Wie wollen Sie Ihre Koalitionspartner im Jahr 2023 zu mehr Freiheit bewegen?

Die FDP ist ein Garant für die Stärkung der Grundrechte. Das haben wir etwa im Bereich der Corona-Politik bewiesen. Sie ist außerdem die Kraft der sozialen Marktwirtschaft. Wir arbeiten daran, dass wir aus den vielen Notmaßnahmen wegen des Kriegs in der Ukraine möglichst schnell wieder herauskommen und haben die Menschen stark von Steuern entlastet. Die FDP zeigt immer wieder auf, dass nicht nur alles von oben durch den Staat geregelt werden darf, sondern Freiräume der Eigenverantwortung verteidigt werden müssen. Natürlich knirscht es da hier und da auch mal in einer Regierung. Aber das Entscheidende ist: Es geht um unser Land – und das bringen wir gut durch den Winter und diese besondere Lage.

Die Ampel-Koalition hat versprochen, die Gesellschaftspolitik zu erneuern. Ein umstrittenes Reformvorhaben ist die Verantwortungsgemeinschaft. Demnach sollen Menschen, die keine Liebesbeziehung führen, aber zusammen leben, ähnliche Rechte erlangen wie Ehepartner. Welche Vorteile hat das?

Die Verantwortungsgemeinschaft soll Menschen rechtliche Sicherheit geben, die dauerhaft im Alltag Verantwortung füreinander übernehmen, aber keine Liebesbeziehung haben. Denken Sie an eine Senioren-Wohngemeinschaft oder auch befreundete Alleinerziehende, die sich im Alltag unterstützen. Das kann dann Fragen der weiteren Nutzung der gemeinsamen Wohnung betreffen, wenn ein Mitglied die Senioren-WG verlässt, oder Auskunfts- und Vertretungsrechte im Krankenhaus. Wir denken da an ein Modell mit verschiedenen Stufen der rechtlichen Verbindlichkeit. Die Verantwortungsgemeinschaft soll unbürokratisch auf dem Standesamt geschlossen werden können und hat vor allem ein Ziel: Menschen, die für Mitmenschen dauerhaft Verantwortung übernehmen, das Leben im Alltag leichter zu machen.

Wann kommt der Gesetzentwurf?

Wir haben im vergangenen Jahr in unserem Ministerium sehr intensiv daran gearbeitet. Mein Ziel ist, dass wir im ersten Quartal ein Eckpunktepapier vorlegen und dann innerhalb der Bundesregierung darüber beraten. Es ist eine komplexe Reform, da geht Sorgfalt vor Schnelligkeit.

Voraussetzung für eine Verantwortungsgemeinschaft soll sein, dass eine „tatsächliche persönliche Nähe“ besteht. Wie wollen Sie das prüfen?

Es wird keine staatlichen Hausbesuche zur Überprüfung geben oder Tests, wie gut man sich denn kennt. Das wäre eines liberalen Rechtsstaats nicht würdig – und es gibt vor allem dafür auch kein Bedürfnis: Denn die Verantwortungsgemeinschaft wird keine Missbrauchsmöglichkeiten bieten, sich sachwidrige Vorteile, etwas steuerlicher Art, zu erschleichen. Deshalb wird eine Verantwortungsgemeinschaft nur eintragen lassen, wer tatsächlich in einem persönlichen Näheverhältnis steht.

Müssen Mitglieder einer Verantwortungsgemeinschaft wie in einer Senioren-WG im Zweifel die Pflegekosten füreinander tragen?

Nein, es soll nicht dazu führen, dass Menschen sich einem finanziell unabsehbaren Risiko aussetzen. Dazu sind in der Regel Rücklagen und die Familie da, die ja heute schon von Rechtswegen haftbar für die Pflegekosten ist. Der Kern der Verantwortungsgemeinschaft ist die Übernahme von Verantwortung im Alltag - und nicht die Haftung füreinander.

Wird durch dieses Modell nicht der besondere Schutz der Ehe im Grundgesetz aufgeweicht?

Nein. Das höre ich zwar immer wieder von Skeptikern. Das ist aber falsch. Denn am besonderen Schutz der Ehe werden wir nichts ändern. Die Vorteile der Ehe im Vergleich zu anderen Formen des Zusammenlebens etwa im Steuerrecht oder im Erbrecht werden bleiben. Wer heiraten möchte, soll das weiterhin tun und steht unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Die Ehe bleibt also etwas ganz Besonderes für Menschen, die sich lieben.

Wer keinen Aufenthaltstitel in Deutschland hat, aber einen Deutsche oder eine Deutsche heiratet, kann in der Regel im Land bleiben. Gilt das auch für die Verantwortungsgemeinschaft?

Nein, das hielte ich für einen großen Fehler. Denn eine solche Regelung hätte natürlich Missbrauchspotenzial, da die Verantwortungsgemeinschaft ja einfach und mit geringen Hürden eingetragen werden können soll. Bei der Ehe gilt etwas Anderes: Das Grundgesetz schreibt vor, Ehe und Familie besonders zu schützen.

Ein weiteres gesellschaftspolitisches Projekt aus Ihrem Haus ist ebenfalls umstritten: Wie ist der Stand beim Selbstbestimmungsgesetz? Es soll das Transsexuellengesetz ersetzen. Künftig sollen Menschen ihren Geschlechtseintrag im Pass durch einfache Erklärung beim Standesamt ändern können.

Wir haben im Sommer bewusst ein frühes Eckpunktepapier vorgestellt. Das hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Vieles davon war übertrieben, von Ängsten und teilweise auch von Vorurteilen gelenkt.

Was war übertrieben?

Da wurden teils Zerrbilder über geschlechtsangleichende Operationen für Minderjährige gezeichnet. Die Wahrheit ist: Medizinische Fragen regelt unser Entwurf überhaupt nicht. Hier haben alle medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland den gleichen Standpunkt, den auch die Bundesregierung teilt: Solche Behandlungen sollen in Deutschland nicht an Minderjährigen vorgenommen werden. Daran wollen wir auch nichts ändern. Wir wollen lediglich möglich machen, dass eine Transperson ihren Geschlechtseintrag bei den Behörden, also beim Staat, ändern kann. Das hat zum Beispiel Auswirkungen auf die Anrede in behördlichen Schreiben. Es geht um das Bürger-Staat-Verhältnis, in dem der Staat die Identität eines Menschen respektieren soll.

Das Gesetzesvorhaben soll es Minderjährigen ab dem vierzehnten Lebensjahr erlauben, ihren Geschlechtseintrag zu ändern – notfalls ohne Zustimmung ihrer Sorgeberechtigten. Sollte Menschen in der Pubertät diese Entscheidung wirklich selbst überlassen werden?

Ich habe persönlich durchgesetzt, dass bei Minderjährigen die Eltern eine starke Rolle im Verfahren haben. Wenn die Eltern der festen Überzeugung sind, dass es sich um einen vorübergehenden Wunsch handelt, können sie die Veränderung des Geschlechtseintrags ja auch verweigern. Sollte es dann mal zu einem Konflikt zwischen Eltern und Kindern kommt, gäbe es den Weg über ein Familiengericht. Wir machen die Dinge leichter – aber nicht leichtfertiger.

Jugendpsychiater warnen davor, den „Peer Pressure“ in der Pubertät zu unterschätzen. Wer den Geschlechtseintrag ändere, gehe dann oft auch den medizinischen Weg der Transition. Jugendlichen werden in Deutschland auch Pubertätsblocker verschrieben.

Nicht der Antrag auf Änderung des Geschlechtseintrags ist für viele Betroffene der entscheidende Schritt – sondern das soziale Coming-out als Transperson. Und mit diesem Vorgang hat unser Gesetz nichts zu tun. Im Übrigen: Ich glaube nicht, dass man die Gleichung aufstellen kann, aus einer Änderung des Geschlechtseintrags auf dem Standesamt folgten zwangsläufig medizinischen Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung. Da stellt man sich die komplexen, schwierigen seelischen Prozesse, die in transidenten Menschen vorgehen, zu einfach vor. Diese Menschen leiden mitunter sehr, und sie haben lange nachgedacht, ob sie diesen Schritt gehen. Sie sind in unserem Gemeinwesen aber lange Zeit wie Kranke behandelt worden. Es geht darum, ihr Selbstbestimmungsrecht zu achten.

Eigentlich sollte der Gesetzentwurf längst verabschiedet sein. Laut der Bundesfamilienministerin wird das nun erst bis zum Sommer passieren. Warum dauert das so lang?

Wir haben wahrgenommen, dass es Sorgen gibt, die sich auf die Rechtsfolgen des Geschlechtswechsels beziehen. Dabei geht es hier in Wahrheit in erster Linie um das Verhältnis zwischen Bürger und Staat – um die Änderung eines Eintrags in einem staatlichen Register. Wir werden klarstellen, was das bedeutet. Die Anrede in einem behördlichen Schreiben muss beispielsweise die geschlechtliche Identität, die ein Mensch für sich gewählt hat, respektieren und akzeptieren. Aber die Betreiberin einer Frauen-Sauna soll auch künftig sagen können: Ich will hier dem Schutz der Intimsphäre meiner Kundinnen Rechnung tragen und knüpfe daher an die äußere Erscheinung eines Menschen an. Die Betreiber dürfen dann beispielsweise nicht dem Risiko einer Klage nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ausgesetzt sein. Das müssen wir sauber regeln. Das ist technisch anspruchsvoll und muss gründlich erarbeitet sein.

Und wann kommt der Gesetzentwurf? Im Sommer, wie Frau Paus gesagt hat?

Meine Motivation ist, dass wir zügig vorankommen. Ich halte das für einen Baustein einer liberalen Gesellschaftspolitik, deshalb muss es vor allem gut gemacht sein. Wenn im Gespräch mit einem anderen Ministerium noch Fragestellungen auftauchen, kann es vielleicht etwas länger dauern, das zu lösen.

Ein anderes wichtiges Thema unserer Zeit ist der Klimaschutz. Die Ampel-Koalition hatte das Ziel, eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ zu etablieren. Zur Zeit fällt die FDP aber eher durch Kritik an der Umweltbewegung auf. Wo bleibt der Schutz der Ökologie bei den Liberalen?

Wir haben das Thema Klimaschutz in den letzten Wochen stärker betont als andere in der Koalition. Derzeit verbrauchen wir mehr Kohlestrom und haben die kuriose Situation, dass der Strom teurer wird und wir zugleich mehr CO2 ausstoßen. Wir sollten zumindest vorübergehend pragmatisch über den längeren Weiterbetrieb von Kernkraftwerken sprechen, anstatt die Kohlekraftwerke immer weiter in Betrieb zu nehmen. Sozial-ökologische Marktwirtschaft bedeutet: Sie muss sozial, also auch bezahlbar sein – und sie muss einen Beitrag zum Klimaschutz leisten.

Die Grünen sind eindeutig gegen einen Wiedereinstieg in die Atomkraft.

Wir sind in einer völlig anderen Situation als noch vor zwei Jahren. Wenn sich die Welt verändert, muss sich auch die Politik verändern. Wenn Politik in einer völlig veränderten Lage einfach unverändert weitermacht, dann ist sie offenbar ideologisch

Sie werden also das Atom-Aus im April nicht mitmachen?

Wir werden im Winter und Frühjahr Daten sammeln, insbesondere zur Netzstabilität. Wenn man diese Fakten hat, muss man eine vernunftgesteuerte Entscheidung treffen. Mein Kollege Volker Wissing hat angeregt, diese Frage von kundigen unabhängigen Wissenschaftlern beantworten zu lassen. Ich hielte es für angemessen und klug, unsere Energiepolitik mehr auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen.

Aber Bundeskanzler Olaf Scholz hat es doch festgelegt – im April ist Schluss mit der Atomkraft in Deutschland.

Ich verstehe, dass ihr journalistischer Instinkt jetzt versucht, mich in einen Widerspruch zur
Richtlinienentscheidung des Bundeskanzlers zu setzen – dem ist aber nicht so. Ich wünsche mir lediglich, dass die Politik in der Lage sein muss, sich zu korrigieren, wenn neue Daten und Erkenntnisse vorliegen, auf deren Grundlage man die Situation anders beurteilt. Man muss ergebnisoffen darüber diskutieren.

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