Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Die NPD war den Richtern damals zu klein, um sie zu verbieten. Jetzt heißt es, die AfD sei zu groß für ein Verbot. Wie viel Prozent müsste eine Partei haben, damit man sie verbieten kann?
Es geht nicht um Prozentzahlen, sondern um Einfluss, Methoden und faktische Machtmittel. Die rechtlichen Kernfragen lauten: Haben wir es mit einer Partei zu tun, der man zutraut, die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen Ist die Partei bereit, zu Mitteln der Gewalt zu greifen? Eine davon unabhängige Frage ist, ob man ein Verbotsverfahren für politisch klug hält. Denn ein rechtliches Verfahren entbindet die seriöse Politik ja nicht davon zu fragen, warum eine beachtliche Zahl an Menschen eine solche Partei wählt und wie man das mit Mitteln der demokratischen Debatte ändern kann. Wenn man sich dieser Frage nicht stellt, nützt auch ein erfolgreiches Verbot nicht viel. Denn wenn die eine populistische Partei verschwindet, ihre Mobilisierungsfaktoren aber bleiben, tritt vermutlich einfach eine neue Populisten-Partei auf den Plan. Wir dürfen uns beim Schutz unserer Verfassungsorgane nicht nur allein auf das Recht stützen, sondern müssen auch politische Überzeugungskraft stärken.
Die wollen Sie schützen – indem Sie das Grundgesetz ändern und das Bundesverfassungsgericht so vor dem Zugriff der AfD sichern. Warum trauen Sie unseren Institutionen nicht? Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten doch das Scheitern der Weimarer Republik vor Augen und haben deshalb schon damals für solche Fälle Vorkehrungen getroffen.
Ich habe sehr großes Zutrauen in unsere Institutionen, denn das wichtigste Instrument des demokratischen Prozesses ist der Parteienwettbewerb und die transparente Debatte. Wir sehen es überall auf der Welt: Populisten reden zwar gern von Meinungsfreiheit, aber sobald sie Macht erlangen, schränken sie die Meinungsfreiheit regelmäßig systematisch ein. Genauso greifen sie die Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere der Verfassungsgerichte an. Gerade die sind aber ein Bollwerk der Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger, die ihre individuellen Rechte notfalls vor Gericht gegen den Staat verteidigen können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Laufe der letzten 75 Jahre größte Verdienste um die Verteidigung und Gestaltung einer Verfassungsordnung erworben, die die Würde und Freiheit des individuellen Menschen in den Mittelpunkt rückt. Deshalb sprechen wir gerade darüber, wie wir das Bundesverfassungsgericht und seine Arbeitsweise stärker in der Verfassung verankern können - auch mit Vertretern der Union. Ich bin optimistisch, dass diese Gespräche zu einem guten Ergebnis führen werden. Über Details möchte ich an dieser Stelle aber noch nicht sprechen.
Es geht unter anderem darum, die Regeln zur Berufung und Amtszeit von Verfassungsrichtern im Grundgesetz festzuschreiben. Das hätten Sie schon früher machen können, in Polen und Ungarn war ja zu beobachten, was passiert, wenn Autokraten die Verfassungsgerichte schwächen. Sieht es jetzt nicht so aus, als handelten Sie aus purer Angst vor der AfD?
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben das Bundesverfassungsgericht ursprünglich sehr zurückhaltend ausgestaltet. Das lag schlicht daran, dass es an Beispielen und Erfahrungen für ein so starkes Verfassungsgericht fehlte. Man hat, wenn man so will, ein Experiment gewagt. Heute wissen wir, dass es gelungen ist. Ich bin optimistisch, dass wir 75 Jahre später vieles von dem, was sich bewährt hat, auch in der Verfassung abbilden können.
Kann man denn die Demokratie vor dem Volk schützen?
Wenn eine Mehrheit der Bevölkerung dauerhaft autoritäre Parteien wählen würde, dann können kluge Institutionen die negativen Folgen dämpfen, auch verzögern, aber nicht völlig verhindern. Deshalb darf man diese Debatte nicht so führen, als ob es ein rechtliches Patentrezept gegen alle Gefahren gäbe. Wir dürfen uns nicht auf technische Instrumente oder rechtliche Verfahren allein zurückziehen. Wir brauchen liberale Institutionen, aber eben auch demokratische Mehrheiten. Trotzdem ist diese Debatte wichtig. Das Beispiel Polen zeigt, dass die Menschen autoritär orientierte Parteien auch wieder aus dem Amt jagen. Recht und Freiheit müssen aber auch in einem autoritär orientierten Interregnum möglichst gut geschützt werden.
Auch die Feinde der Demokratie fordern mehr Demokratie. Woran können Wähler eigentlich einen Demokraten von einem Nichtdemokraten unterscheiden?
Es ist eine bewährte Propagandatechnik, als Wolf im Schafspelz aufzutreten. Populisten auf der ganzen Welt reden davon, Vertreter des wahren Volkswillens zu sein. Sodann erklären sie einen Teil des Volks zum wahren Volk und einen anderen Teil zu Bürgern zweiter Klasse. Die könne man nicht nur ignorieren, sondern sogar demütigen. Das kann jeden einzelnen Menschen treffen. In einer liberalen Demokratie gibt es aber keinen Auftrag, der wichtiger ist als das Individuum und seine Menschenwürde. Wir bilden in einem Land zwar eine Rechtsgemeinschaft – aber es gibt kein homogenes, gleichgeschaltetes wahres Urvolk. Wir alle sind Menschen und suchen unser Glück. Auch der deutsche Nationalstaat wurde aus Ländern und Kleinstaaten zusammengesetzt, die nicht viel miteinander gemein hatten. Selbst die angeblich gemeinsame Sprache zerfiel in so viele so unterschiedliche Dialekte, dass Friesen und Sachsen sich im 19. Jahrhundert kaum verstanden haben. Vielfalt ist etwas Normales, und Politik darf niemals so gemacht werden, dass man Mehrheiten gewinnt, indem man andere zum Feind erklärt, nur weil sie etwas anders sind. Demokraten müssen akzeptieren, dass auch demokratische Mehrheiten nicht alles dürfen. Denn es gibt Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien. Wenn man Populisten genauer zuhört, erkennt man, dass ihre Politik gegen diese demokratischen Spielregeln eklatant verstößt.
Über diese demokratischen Spielregeln wacht in Deutschland auch der Verfassungsschutz. Er soll als Frühwarnsystem Gefahren melden, die dem Rechtsstaat drohen und dokumentiert seit Jahren, wie die AfD immer radikaler wird. Trotzdem wird die Partei immer erfolgreicher. Versagt das Frühwarnsystem?
Der Verfassungsschutz ist nicht dazu da, den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, was sie zu wählen haben. Es wäre gefährlich und falsch, seine Aufgabe so zu interpretieren. Er hat einen ganz klaren gesetzlichen Auftrag. Er muss im Blick behalten, ob es Akteure und Organisationen gibt, die die Verfassungsordnung des Grundgesetzes beseitigen wollen. Dazu gehört, dass er Informationen über solche Bestrebungen sammelt und diese auswertet.
Geht der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, zu weit, wenn er sagt, die „schweigende Mehrheit in diesem Land“ müsse aufwachen?
Ich habe die Äußerungen so verstanden, dass Herr Haldenwang hier Transparenz über seine Arbeit und deren Ergebnisse schaffen möchte. Klar ist ja: Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss aufklären, aber darf nicht zu einer staatlich finanzierten Willensbildungseinrichtung werden. Das ist eine feine Trennlinie, die es beachten muss. Denn diejenigen, die das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet, werden natürlich immer behaupten, dass es seine Befugnisse überschreitet. Die Behörde sollte daher darauf achten, dass ihr so etwas nicht unterstellt werden kann.
Wünschen Sie sich eine nüchternere Sprache von Haldenwang?
Allgemein würde ich sagen, dass Erkenntnisse so vermittelt werden sollten, dass man sie versteht. Nichts ist schlimmer als technokratische Sprache. Sie ist schwer verständlich, kalt und bewegt daher nichts. Im Vordergrund muss aber die Information stehen. Aufgrund dieser Informationen können sich die Bürgerinnen und Bürger dann eine Meinung bilden. Die Meinungsbildung darf der Verfassungsschutz aber nicht vorwegnehmen.
Was halten Sie eigentlich vom Begriff der Brandmauer in Zusammenhang mit der AfD?
Seriöse Demokraten können sich nicht dagegen schützen, dass die AfD ihren Anträgen zustimmt. Wenn die AfD anderen Demokraten mit ihrer Zustimmung quasi einen Maulkorb verpassen könnte, würden wir sie nur noch stärker machen. Ich verstehe die Brandmauer deshalb so, dass man mit einer solchen Partei nicht koordiniert zusammenarbeiten kann. Man kann weder Absprachen treffen noch Koalitionen eingehen. Das entspricht meiner Überzeugung.
In Thüringen nominierte die FDP gerade Thomas Kemmerich zum Spitzenkandidaten – den Mann, der 2020 mit den Stimmen der AfD kurz mal zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Wie erklären Sie Ihren Thüringer Parteifreunden, dass die FDP-Führung Kemmerich die Unterstützung im Wahlkampf versagt?
Zunächst einmal: Herr Kemmerich hat versichert, dass seine Wahl keine koordinierte Zusammenarbeit war, sondern ein Täuschungsmanöver. Denn die AfD hat ja einen eigenen Kandidaten antreten lassen, und dann trotzdem jemand anderen gewählt. Ansonsten gilt: In Parteien findet die Willensbildung von unten nach oben statt. Deshalb treffen Parteitage oder gewählte Gremien Entscheidungen. Die habe ich als Bundesjustizminister nicht zu kommentieren.
Wünschen Sie Herrn Kemmerich viel Erfolg für seine Wahl?
Ich wünsche dem Bundesland Thüringen Mehrheiten seriöser Demokraten.