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"Wir leben in einer Zeit sehr giftiger Debatten"

Schwerpunktthema: Interview

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit ZEIT ONLINE u.a. über die Resilienz des Bundesverfassungsgerichts.

Interviews und Gastbeiträge
ZEIT ONLINE

Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.

ZEIT: Herr Minister, sind Sie von Natur aus eigentlich eher Pessimist oder Optimist?

Dr. Marco Buschmann: Ich bin durch und durch Optimist. Und im Laufe meines Lebens bin ich sogar zum methodischen Optimisten geworden.

Was heißt das?

Methodische Optimisten sind davon überzeugt, dass sich die Dinge, für die sie Verantwortung tragen, zum Besseren wenden lassen.

Sie haben gerade gemeinsam mit den Fraktionen der Ampel und der Union Vorschläge zum besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts gemacht. Eine eher pessimistische Aufgabe, Sie mussten sich mit den Gefahren auseinandersetzen, die dem Verfassungsgericht drohen könnten.

Stimmt. Methodische Optimisten sind aber nicht naiv. Natürlich können Dinge schiefgehen. Das gehört zum Leben. Sich auf Eventualitäten vorzubereiten und zu überlegen, was man tun kann, um die negativen Folgen zu verringern, ist auch eine Form der aktiven Gestaltung zum Besseren.

Wie sehr ist das Verfassungsgericht denn bedroht?

Das Bundesverfassungsgericht genießt breiteste Akzeptanz bei der Bevölkerung und in der Politik. Ich sehe keine akute Gefährdung. Um uns herum haben wir allerdings beobachten müssen, dass sich die Dinge schneller ändern können, als uns lieb ist. In mehreren Staaten Osteuropas wurden die dortigen Verfassungsgerichte unterminiert, ihre Unabhängigkeit angegriffen. In Deutschland gibt es auf der Bundesebene zur Zeit keine Anzeichen für eine vergleichbare Entwicklung. Aber das muss ja nicht immer so bleiben. Deshalb wollen wir bewährte Grundsätze so in der Verfassung absichern, dass es für den Gesetzgeber im Fall der Fälle deutlich schwieriger wäre, das Gericht zu sabotieren.

Welche Gefahren sehen Sie?

Wir haben in Osteuropa eine ganze Reihe von Taktiken beobachten können, mit denen die Arbeitsfähigkeit und Unabhängigkeit von Verfassungsgerichten attackiert wurden. Vieles davon wäre auch in Deutschland denkbar. Stellen Sie sich vor, eine Bundestagsmehrheit käme auf die Idee zu sagen, dass das Bundesverfassungsgericht zusätzlich zu den bisherigen beiden Senaten noch zwei weitere bekommt. Und dann werden diese beiden neuen Senate mit Juristen besetzt, die der Bundestagsmehrheit politisch nahestehen. Vergleichbares konnten wir in Ungarn beobachten. In Polen wurde die Ruhestandsgrenze für Richter heruntergesetzt, um unliebsame Richter aus dem Amt zu entfernen. Alle diese Dinge könnten auch in Deutschland passieren, da die Zahl der Senate und auch die Vorgaben zur Amtszeit der Richter bislang in einem einfachen Bundesgesetz geregelt sind. Jetzt heben wir die Regeln auf die Ebene des Verfassungsrechts und entziehen damit die Struktur des Gerichts, die sich in den letzten gut 70 Jahren bewährt hat, der Disposition einer einfachen politischen Mehrheit. Eins ist mir dabei wichtig: Das Vorhaben ist nicht nur defensiv ausgelegt, auch wenn wir gerade viel über potenzielle Gefahren sprechen. Es hat auch eine anerkennende und offensive Seite.

Nämlich?

Wir feiern in diesem Jahr das 75ste Jubiläum des Grundgesetzes. Das ist ein guter Anlass, einmal zu fragen: Was hätten die Mütter und Väter getan, wenn ihnen das Wissen von heute zur Verfügung gestanden hätte? Damals, 1949, war noch nicht klar, wie sich das Bundesverfassungsgericht bewähren würde - und wie wichtig es einmal für unsere Verfassungskultur sein wird. Die neuartige Institution des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Machtfülle auch gegenüber dem Gesetzgeber war ein Experiment. Deshalb ist das Grundgesetz von 1949 eher wortkarg, wenn es um das Gericht geht. Man wollte erst einmal beobachten, wie sich das Experiment entwickelt und den einfachen Gesetzgeber notfalls nachsteuern lassen. Heute wissen wir, dass das Experiment einen optimalen Verlauf genommen hat. Ich vermute, mit dem Wissen von heute hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes all die Dinge, die wir jetzt vorschlagen, schon damals ins Grundgesetz geschrieben. Wir vollenden gewissermaßen das, was damals angelegt war, ergänzt um das Wissen von heute.

Lassen Sie uns dennoch noch einmal über die Risiken sprechen. Sie sagen, die Regeln für das Verfassungsgericht, die sich in der Staatspraxis bewährt haben, sollen jetzt im Grundgesetz verankert werden. Eine wichtige Regel aber fehlt dabei, sie erhält keinen Verfassungsrang. Die Vorschrift nämlich, dass die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts jeweils mit einer Zweidrittelmehrheit gewählt werden müssen. Warum soll ausgerechnet dieses Erfordernis nicht ins Grundgesetz übernommen werden?

Das ist ein wichtiger Punkt und gewiss der umstrittenste in der gesamten Debatte. Es gibt kaum eine Runde von Verfassungsrechtlern, in der um diese Frage nicht intensiv gerungen wird. Um hier zu einer mehrheitsfähigen Lösung zu kommen, haben wir uns gefragt, was die realistischen Szenarien sind, denen wir begegnen wollen. Dass es im Bundestag wirklich eine antidemokratisch gesinnte Mehrheit gibt, die das Verfassungsgericht an die kurze Leine nehmen möchte, ist eine theoretisch denkbare Variante, aber bisher doch weniger wahrscheinlich.

Aber auf dieses Szenario haben Sie sich gerade selbst berufen, mit Verweis auf Osteuropa.

Wie gesagt: Die Initiative hat nicht nur den Zweck, Risiken zu mindern. Es geht auch darum, die Anerkennung für die bewährte Funktionsweise und die Leistungen des Bundesverfassungsgerichts auszudrücken. Wägt man die Risiken heute ab, dann ist folgendes Problem das wahrscheinlichere: dass nämlich eine parlamentarische Minderheit die Absicht verfolgt, dem Gericht zu schaden und eine konstruktive Mitarbeit bei der Richterwahl verweigert. Ist diese obstruktive Minderheit dann so stark, dass ohne sie keine reguläre Wahl von Richtern mehr zustande kommen kann, könnte sie die Arbeitsfähigkeit des Gerichts gefährden oder die Wahl von unqualifizierten Richtern erzwingen wollen. Bei unserer Einigung haben wir uns aber auf eine Lösung des Problems der obstruktiven Minderheit bei der Richterwahl konzentriert. Dass diese Gefahr nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, sehen wir das ja bereits heute im Bundestag. Es gibt dort schon jetzt eine Fraktion mit Abgeordneten, die sich viel Mühe geben, bewährte Mechanismen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu missbrauchen oder zu obstruieren. Das sind Leute, die nicht einfach eine andere Meinung haben. Das sind Leute, die wollen, dass die Institutionen nicht gut funktionieren. Es ist in der Tat so, dass vielen Kolleginnen und Kollegen ein theoretisches Szenario, in dem derartige Parteien in Summe auf einen Stimmenanteil kämen, um eine Richterwahl zu blockieren, Sorgen bereitet hat. Würde man die Zweidrittelmehrheit auf der Ebene der Verfassung regeln, hätte man dieses Problem nicht gelöst, sondern eher vergrößert.

Es sei denn, Sie schreiben auch den Mechanismus zur Blockadelösung mit ins Grundgesetz.

Auch diese Kombination wurde diskutiert, fand aber letztlich nicht die nötige Akzeptanz. Ein wichtiger Gedanke war in diesem Zusammenhang, dass auch der Ersatzwahlmechanismus das Problem nicht lösen würde, wenn sowohl Bundestag wie auch Bundesrat blockiert wären. Das ist natürlich nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin denkbar. In einem solchen Extremszenario bliebe dann nicht die Möglichkeit, das Wahlquorum abzusenken, um die Arbeitsfähigkeit des Gerichts zu erhalten. Schön wäre das gewiss nicht und allenfalls ultima ratio. Aber wie gesagt: Es geht hier um ein Extremszenario.

Juristisch mag das plausibel klingen. Aber in der von Ihnen geschilderten doppelten Blockadesituation in beiden Häusern wäre es doch politisch praktisch undenkbar, das Quorum zu ändern. Es sähe aus wie eine Selbstaufgabe der Demokraten.

Das ist ein wichtiger Punkt. Es ist naiv zu glauben, man könne mit Verfassungsrecht allein jedes Problem eines politischen Gemeinwesens lösen. Das ist eine völlige Fehlvorstellung. Ein demokratisches Gemeinwesen ist kein Computer und die Verfassung kein Betriebssystem, das nur perfekt programmiert werden muss, damit alles auf immer und ewig reibungslos läuft. Insofern war allen Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe zur Stärkung des Bundesverfassungsgerichts klar: in erster Linie müssen seriöse Demokraten dafür kämpfen, dass seriöse Parteien im Deutschen Bundestag immer eine breite Mehrheit haben. Wenn seriöse Demokraten eines Tages in der Minderheit gegenüber Antidemokraten sein sollten, dann nützt auch das beste Verfassungsrecht auf Dauer alleine nicht viel. Es kann dann negative Entwicklung verzögern, über eine gewisse Zeit dämpfen, aber nicht auf Dauer die negativen Folgen der Tyrannis verhindern.

Ein anderer Vorschlag sah vor, nicht alle Details ins Grundgesetz zu schreiben, sondern zu sagen, bei Reformen, die die Arbeit des Gerichts neu regeln, braucht es die Zustimmung des Bundesrates.

Ja, es gab häufiger den Vorschlag, den Bundesrat zu stärken. Dahinter steht der Gedanke, der Bundesrat sei ein stärkeres Bollwerk gegen populistische Trends. Einerseits ist da etwas dran. Andererseits sollte sich aber kein Gremium, das seine Zusammensetzung aus Wahlen ableitet, allzu sicher fühlen, von bestimmten Trends und politischen Wellenbewegungen nicht erfasst zu werden. Geänderte Mehrheiten auf Bundesebene zeichnen sich nicht selten auch vorher durch geänderte Mehrheiten bei Landtagswahl ab. Wer sagt, im Bundestag könnte sich ein destruktiver Populismus niederschlagen, während das im Bundesrat niemals der Fall sein kann, verleiht erst einmal nur einer Hoffnung Ausdruck. Gleichwohl stärken wir die Rolle des Bundesrates. Denn er kann künftig als Ersatzwahlgremium anstelle des Bundestages entscheiden, wenn dieser blockiert sein sollte. Darüber hinaus gab es die Idee, jede Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zu einem sogenannten Zustimmungsgesetz zu machen, das dem Bundesrat eine besonders starke Rolle verleiht. Dafür sprach, dass sich der Bundestag noch stärker für jede Änderung rechtfertigen müsste. Es gäbe zudem noch ein zweites Haus, das prüft, ob etwas Obstruktion ist oder nicht. Andererseits würde diese Lösung aber das Verfahren für Änderungen sehr schwerfällig machen. Ein Beispiel: Wir machen derzeit das Bundesverfassungsgerichtsgesetz fit für den elektronischen Rechtsverkehr. Das würde in dem nötigen Tempo kaum gelingen, wenn der Bundesrat zustimmen müsste. Zudem sollte man nicht vergessen, dass Gesetze, in denen eine destruktive Mehrheit ein paar juristische Tricks zu Lasten des Verfassungsgerichts beschließt, ohnehin im Wege eines Normenkontrollverfahren vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden könnte. Für einen Antrag des Bundestages braucht man nur ein Viertel seiner Mitglieder.

Aber das wäre doch ein verfassungspolitischer Albtraum. In Polen ist es dazu gekommen, das Verfassungstribunal dort musste gewissermaßen in eigener Sache entscheiden. Das delegitimiert ein Gericht.

Ich würde mir auch wünschen, dass es nie zu einer solchen Situation kommt. Aber wir denken ja gerade über Extremszenarien nach. Und da darf man nicht vergessen, es gibt immer noch einen gewissen Sicherungsmechanismus, weil das Verfassungsgericht sich auch selbst schützen kann.

Wie soll der geplante Mechanismus zur Auflösung von Wahlblockaden aussehen. Was genau schlagen Sie vor?

Immer dann, wenn sich ein Wahlorgan, also Bundestag oder Bundesrat, nicht auf eine Richterneuwahl mit der nötigen Mehrheit einigen kann, soll auch das jeweils andere Organ unter bestimmten Voraussetzungen die Wahl ersatzweise vornehmen können. Es soll aber dabei bleiben, dass das zuständige Wahlorgan zunächst zwei Monate Zeit hat, einen neuen Richter zu wählen, wenn die Amtszeit eines Richter abgelaufen ist. Kommt in diesen zwei Monaten keine Wahl zustande, muss wie bisher das Bundesverfassungsgericht aufgefordert werden, Vorschläge für die Wahl zu machen. Neu ist die zweite Stufe: Bleibt der Sitz auch noch drei Monate nach einem solchen Vorschlag des Gerichts vakant, kann ihn auch das andere Wahlorgan besetzen. Wichtig ist aber, dass das ursprüngliche Wahlorgan nach Fristablauf weiterhin entscheiden kann.

Es gab auch andere Vorschläge, etwa die Idee, der Bundespräsident könne die Richter auswählen, wenn das Parlament scheitert, oder ein Gremium von Juristen könne einspringen. Was spricht dagegen?

Hier gab es insbesondere zwei Argumente. Erstens: Wir wollten unbedingt vermeiden, dass es Richter erster und zweiter Klasse gibt: also auf der einen Seite Richter, die in den eigentlich zuständigen Wahlgremien gewählt wurden, und auf der anderen Seite gewissermaßen Notrichter, die durch Einzelentscheidung des Bundespräsidenten oder ähnliche Mechanismen ins Amt kommen. Wenn sich Bundestag und Bundesrat gegenseitig vertreten, entsteht dieses Problem nicht. Zweitens: Ein verfassungspolitisch wichtiges Argument ist die Frage der demokratischen Legitimation. Das ist mir auch persönlich ein Anliegen. Ich war während der Hochphase der öffentlichen Auseinandersetzung um die sogenannte Justizreform in Israel. Dort hat mir die damalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs eindrucksvoll geschildert, dass sie sich im Leben nicht habe vorstellen können, dass gegen den Berufsstand der Richter, einmal eine politische Kampagne geführt würde. Das populistische Argument gegen die Richter lautete: Diese seien vom Volk abgekoppelt, eine abgehobene, kosmopolitische Elite, die mit den wahren Sorgen und Nöten der normalen Menschen nichts zu tun habe. Das ist ein gängiges populistisches Narrativ, nicht nur in Israel. Und deshalb ist es so wichtig, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts vom Parlament oder dem Bundesrat gewählt werden, von Personen, die demokratisch legitimiert sind. Es sind unsere Richter und daher können sie auch im Namen des Volkes entscheiden.

Nach den jetzt präsentierten Vorschlägen ist eine Konstellation denkbar, in der Bundestag und Bundesrat sich parallel bemühen, einen Richter, eine Richterin zu wählen. Und im Extremfall kann es zu einem Wettlauf zwischen den beiden Häusern kommen.

Ja, das ist aber kein Mangel des Vorschlags, das ist gerade die Idee. Der Mechanismus erhöht den Einigungsdruck, also den Druck, sich zusammenzusetzen, intensiv zu sprechen und sich vielleicht noch einmal andere qualifizierte Kandidaten anzuschauen.

Deshalb auch die kurzen Fristen von etwa sechs Monaten?

Richtig, das Ziel ist, in einem überschaubaren Zeitraum von etwa einem halben Jahr immer zu einer wirksamen Nachwahl einer qualifizierten Persönlichkeit zu kommen und damit die Arbeitsfähigkeit des Gerichts sicherzustellen.

Es wird auch gesagt, das ganze Vorhaben zeige, dass die etablierten Parteien in Panik seien.

Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben unsere Vorschläge gelassen und in großer Ruhe erarbeitet. Die Ergebnisse hielte ich auch dann für sinnvoll, wenn es in Deutschland überhaupt keine populistischen Parteien gäbe. Wir leben in einer Zeit sehr giftiger Debatten. Dass seriöse Demokraten diese schwierigen Fragen trotzdem gelassen, nüchtern und auf hohem Niveau jenseits der Grenzen von Parteien, Fraktionen sowie Mehrheit und Minderheit konstruktiv besprechen können, zeigt die Stärke unserer politischen Kultur.

"Wir leben in einer Zeit sehr giftiger Debatten", ZEIT.DE vom 26.07.2024 von Heinrich Wefing © Alle Rechte vorbehalten. ZEIT ONLINE GmbH, Hamburg.

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