Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit dem stern über die Freilassung von in Russland und Belarus unrechtmäßig inhaftierten deutschen, amerikanischen und russischen Staatsangehörigen.
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stern: Beim größten Gefangenenaustausch seit Ende des Kalten Krieges hat Russland 16 politische Gefangene gegen zehn russische Staatsangehörige freigelassen. In den USA hat Präsident Joe Biden die Freigelassenen euphorisch empfangen. Ähnlich begeistert nahm Wladimir Putin den freigelassenen Tiergartenmörder in den Arm. Nur aus Deutschland gab es keine Jubelbilder. Gab es dazu keinen Anlass?
Dr. Marco Buschmann: Für uns war das eine sehr ambivalente Entscheidung. Wir haben davon abgesehen, das Strafurteil gegen einen rechtskräftig verurteilten Mörder vollständig zu vollstrecken. Das ist bitter.
Sie sprechen vom Tiergartenmörder Vadim Krassikow, der 2019 im Berliner Tiergarten einen tschetschenisch-georgischen Asylbewerber und Ex-Milizenführer erschoss und dafür in Deutschland zu einer lebenslangen Haft unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt wurde.
Krassikow hätte eigentlich noch Jahrzehnte im Gefängnis verbringen müssen. Doch dem großen Interesse an der weiteren Vollstreckung seiner Strafe standen im konkreten Fall noch gewichtigere Interessen gegenüber. Erstens die Schutzpflicht der Bundesregierung für eigene Staatsbürger. Fünf von ihnen konnten wir befreien, davon einen, der in Belarus offiziell zum Tode verurteilt war und erst kurz vor dem Austausch begnadigt wurde. Zweitens hatten die USA, denen wir gerade auch sicherheitspolitisch eng verbunden sind, ein sehr großes Interesse artikuliert, dass dieser Austausch zustande kommt. Ins Gewicht fiel drittens die Hoffnung auf ein Russland, in dem es eines Tages wieder einen Rechtsstaat geben könnte. Diese Hoffnung verkörpert unter anderem der Bürgerrechtler Wladimir Kara-Mursa, der jetzt auch freigekommen ist. Diese Argumente haben uns bewogen, die Entscheidung so zu treffen, wie wir sie getroffen haben. Doch es war eine sehr schwierige Abwägung.
Die Bundesanwaltschaft hatte sich gegen die Freilassung ausgesprochen. Sie haben Generalbundesanwalt Jens Rommel schriftlich angewiesen, die Vollstreckung der Strafe für den Tiergartenmörder auszusetzen.
Der Generalbundesanwalt hatte für seine Haltung sehr gute Gründe. Und seine Haltung hat mich auch nicht überrascht. Denn natürlich hat unser Rechtsstaat ein großes Interesse daran, dass ein verurteilter Mörder seine Freiheitsstrafe auch absitzt. Natürlich muss der Generalbundesanwalt insbesondere dieses Vollzugsinteresse in den Blick nehmen. Aber ich habe das Recht und die Pflicht, auch andere Aspekte zu berücksichtigen. Ich habe in meiner Entscheidung rechtliche, aber auch außen- und sicherheitspolitische sowie humanitäre Gesichtspunkte abgewogen. Für diese übernehme ich deshalb als Minister auch die Verantwortung.
Brüskieren Sie damit nicht den Generalbundesanwalt?
Nein. Ich habe ein sehr gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu Generalbundesanwalt Rommel und seiner Behörde, auf die ich im Übrigen sehr stolz bin. Schließlich war es diese Behörde, die Krassikow hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Aber manche Entscheidungen kann am Ende nur der Minister treffen.
Sind solche schmutzigen Deals schlicht eine Notwendigkeit in der internationalen Politik?
Ich halte die Bezeichnung „schmutziger Deal“ für unzutreffend. Wir haben 16 Menschen gerettet, die Putins Gefangene waren – zum Teil nur deshalb, weil sie ihre Meinung gesagt haben. Wir haben aus Humanität gehandelt und aus sicherheitspolitischer Verantwortung. Diese Abwägung war schwierig, aber gewiss nicht schmutzig. Trotzdem hatte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt Recht, als er einmal sinngemäß gesagt hat: Es gibt Situationen in der Politik, bei denen man zwangsläufig Schuld auf sich lädt - egal wie man sich entscheidet.
Sie spielen auf Schmidts Entscheidung 1977 an, sich nicht von der RAF erpressen zu lassen und eine Gruppe von RAF-Terroristen gegen den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer freizulassen. Schleyer wurde daraufhin ermordet.
Ich habe sehr viel über die Zeit damals gelesen, schon weil es das Jahr meiner Geburt war. Die konkrete Entscheidungssituation war mit heute nicht vergleichbar. Aber in beiden Fällen ging es um schwierige Abwägungsentscheidungen - und nicht um Entscheidungen nach dem Muster „eins plus eins gibt zwei“. Und in beiden Fällen war klar: Jedwede Entscheidung hat bittere Konsequenzen - und man kann nicht sicher wissen, ob man die Entscheidung eines Tages bereut.
Sie sagten bereits, dass die Verhandlungen schon seit langem liefen. Ursprünglich soll dabei auch der Austausch von Alexej Nawalny im Gespräch gewesen sein. Dann starb dieser in sibirischer Haft. Hat das für Sie die Verhandlungen verändert?
Es ist richtig, dass es innerhalb der Bundesregierung Überlegungen gab, auch die Forderung nach einer Freilassung von Alexej Nawalny in Verhandlungen über einen möglichen Gefangenenaustausch einzubeziehen. Allerdings wurden diese Überlegungen meines Wissens nach nie mit den Russen geteilt. Als ich vom Tod Nawalnys erfuhr, hat mich die Frage sehr umgetrieben. Mich quälte, ob er umgebracht worden sein könnte, weil die Russen Angst hatten, ihn herausgeben zu müssen. Mir wurde versichert: Es gab zu keinem Zeitpunkt ein entsprechendes Signal Deutschlands an die Russen.
Trotzdem hätte man nach dem Tod Nawalnys die Verhandlungen auch abbrechen können. Sie gingen aber weiter. Warum?
Über die genauen Abläufe werde ich hier nichts sagen. Die operative Verhandlungsführung, also das Gespräch zu den konkreten Details, lag bei den Amerikanern. Das war auch sinnvoll. Denn es hätte sonst die Gefahr bestanden, dass die russische Gegenseite versuchen würde, verschiedene Verhandlungspartner gegeneinander auszuspielen.
Also konnte die deutsche Seite nur darüber entscheiden, ob sie den Tiergartenmörder freilässt oder nicht?
Wir haben unsere Interessen klargemacht. Wir haben keinen Zweifel gelassen, dass schon eine Menge auf dem Tisch liegen müsse, bevor eine deutsche Regierung einen solchen Schritt gehen könne. Und das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass die Zahl der Personen, die wir befreien konnten, im Laufe der Verhandlungen immer größer geworden ist.
Trotzdem fehlen gewichtige Namen auf der Liste der Freigelassenen. Zum Beispiel den belarussischen Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki. Oder die der Musikerin und Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikawa, die auch in Deutschland studiert und unterrichtet hat.
Es gibt hunderte Menschen in den russischen Gefängnissen, die ich gern lieber heute als morgen frei sehen würde. Wir haben es bei Russland nicht mit einem Rechtsstaat zu tun. Menschen sitzen dort nur deswegen in Haft, weil sie ihre Meinung frei sagen. Natürlich kann man sich fragen: Wen hätten wir noch alles frei bekommen können? Aber das Ergebnis ist sehr beachtlich. Wir haben fünf deutsche Staatsbürger befreit und 16 Menschen insgesamt, darunter Wladimir Kara-Mursa, nach Nawalny wohl die zweitwichtigste Persönlichkeit in der russischen Opposition. Wir haben Menschenleben gerettet und diesen Menschen neue Freiheit ermöglicht.
Nach welchen Kriterien wurden die Freigelassenen ausgesucht? Gab es da von deutscher Seite Wunschkandidaten?
Ich werde mich nicht zu den Einzelheiten der Verhandlungen äußern. Nur so viel: Natürlich war es auch unser Ziel, unserer besonderen Schutzverantwortung gegenüber deutschen Staatsbürgern gerecht zu werden. Ein analoges Ziel hatten die Amerikaner. Deshalb hatte die Freilassung des Wallstreet-Journalisten Evan Gershkovich für sie eine hohe Priorität.
Hat der Austausch nicht das Risiko erhöht, dass Russland künftig noch mehr Deutsche und andere Ausländer willkürlich verhaften lässt, um ein politisches Faustpfand zu haben.
Ich kann niemandem die Sorge nehmen, dass Putin weitere politische Gefangene machen wird. Ich glaube aber nicht, dass der Austausch das Gefahrenpotenzial kategorisch verändert hat. Unter Wladimir Putin sind knapp 40 Journalisten umgebracht worden. Unzählige sind willkürlich inhaftiert worden. In Russland fallen hochrangige Beamte, die sich kritisch äußern, von Hochhäusern. In diesem Land gab es schon vor diesem Austausch keine Sicherheit mehr.
Sie würden also jedem Deutschen abraten, derzeit nach Russland zu reisen?
In Russland ist schon seit längerem niemand mehr sicher. Und ich rate allen dringend davon ab, sich ohne zwingende Notwendigkeit in ein Land zu begeben, in dem niemand sicher ist.
Aber hat man mit dem Austausch nicht Putin einen neuen Anreiz gegeben, sich durch willkürliche Verhaftungen Erpressungsmasse zu verschaffen?
Es war in dieser spezifischen Einzelfallsituation unsere Überzeugung, dass die Vorteile die beachtlichen Gegenargumente überwiegen. Daraus entsteht keine Erpressbarkeit. Putin kann sich nie darauf verlassen, dass er einfach nur beliebige Pakete willkürlicher Gefangener zusammenschnüren kann, um uns zu irgendetwas bewegen, was wir nicht tun wollen. Wir entscheiden souverän.
Sie haben vorhin selbst den Fall Hanns-Martin Schleyer angesprochen. Helmut Schmidt entschied damals, selbst angesichts der drohenden Ermordung eines deutschen Staatsbürgers nicht auf die Bedingungen der Erpresser einzugehen. Reflektiert man das in einer Situation wie der Ihren nochmal?
Durchaus. Aber die jetzige Situation ist doch eine sehr andere als diejenige im Deutschen Herbst von 1977. Damals war die Bundesrepublik durch eine private Terrorgruppe herausgefordert. Wir stehen heute einem autokratischen Regime gegenüber. Es gibt sehr gewichtige außenpolitische Belange zu berücksichtigen. Und eine gewaltsame Befreiung von Gefangenen ist von vornherein ausgeschlossen.
Ist die politische Instanz überhaupt der richtige Ort für solche gravierenden Entscheidungen? Führende Juristen wie der Europarechtler Franz Mayer wollen darüber nachdenken, ob solche Entscheidungen nicht der Politik entzogen werden sollten.
Das wäre ein Fehler. Aus meiner Sicht kann nur eine demokratisch gewählte Regierung solche Entscheidungen sinnvoll verantworten. So hat es übrigens auch das Bundesverfassungsgericht 1977 im Fall der Schleyer-Entführung entschieden. Es hat damals klar gesagt: Das Bundesverfassungsgericht kann der Bundesregierung nicht vorgeben, wie es in einer so extrem schwierigen Entscheidung die unterschiedlichen Interessen gegeneinander abzuwägen hat.
Wäre es nicht gut, ein Gesetz zu haben, das dies regelt?
Wir haben heute Gesetze, die den Spielraum der Bundesregierung regeln. An die haben wir uns gehalten. Der Spielraum ist weit. Wie sollte aber auch ein Gesetz aussehen, das diese Frage engmaschiger beantworten will? Wer wollte sich zutrauen, schon heute genau zu wissen, welche Konstellationen in der komplexen Welt der internationalen Politik alle auftauchen könnten? Ein solches Gesetz wäre vermutlich sogar gefährlich, weil es Diktatoren quasi eine Anleitung an die Hand gibt, was sie alles tun müssen, um eine Forderung stellen zu können.
Wäre es nicht juristisch sauberer gewesen, man hätte die Freilassung des Tiergartenmörders mittels einer Begnadigung durch den Bundespräsidenten erwirkt?
Eine Begnadigung wäre meiner Ansicht nach falsch gewesen. Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten ist dafür da, um im Einzelfall extreme und unbillige Härten des Strafvollzugs zu korrigieren. Krassikow saß zu Recht in einem deutschen Gefängnis. Dort war er keinen unbilligen Härten ausgesetzt. Er hat das bekommen, was er verdient hat. Und noch etwas sprach gegen eine Begnadigung und für unsere Lösung: Sollte Krassikow jemals wieder deutschen Boden betreten, werden wir ihn sofort festnehmen und er wird seine Strafe voll verbüßen. Im Falle einer Begnadigung wäre das nicht sichergestellt.
Aber war es nicht eine schallende Ohrfeige, dass eben jener Putin, der zum Tiergartenmord immer behauptete, die russische Regierung habe damit nichts zu tun, jetzt den Mörder persönlich und mit herzlicher Umarmung am Flughafen begrüßt?
Der Vorgang zeigt der Weltöffentlichkeit erneut: Putin hat jedweden Anstand verloren. Zugleich hat Putin damit ein Geständnis abgelegt. Denn mittlerweile hat er zugegeben, dass Krassikow ein Agent des russischen FSB war.
Es wurde aus Ihrer Sicht kein Präzedenzfall geschaffen?
Präzedenz ist ja in erster Linie ein Begriff aus dem anglo-amerikanischem Recht. Wenn ein US-Gericht einmal in einer Weise entschieden hat, muss es sich daran festhalten lassen. „Stare decisis“ nennen das die Fachleute. Auf unsere politische Entscheidung, die wir hier getroffen haben, kann sich aber niemand berufen, auch Wladimir Putin nicht. Die politische Entscheidungssituation war einzigartig. Und die deutsche Bundesregierung wird weiterhin in jedem Einzelfall souverän selbst entscheiden, was sie für richtig hält.
Hatten Sie eigentlich bis zum Ende jemals Zweifel, dass die Russen die Bedingungen einhalten würden?
Nicht einmal als das Flugzeug mit den befreiten Gefangenen in Köln/Bonn gelandet war, konnten wir sicher sein. Der russische Geheimdienst FSB setzt regelmäßig Gift ein, um Leben oder Gesundheit von Menschen direkt oder indirekt auf die perfideste Art und Weise zu zerstören. Ich befand mich im Urlaub und hatte an dem Tag des Austausches Geburtstag. Aber meine Staatssekretärin hat mich darüber laufend unterrichtet. Wichtig war, alle Menschen, die in Köln/Bonn gelandet sind, ärztlich gründlich untersuchen lassen.
Um zu klären, ob man die Richtigen hat?
Das war nach meinen Informationen schon in Ankara erfolgt. Aber selbst wenn man die Richtigen hat, muss man klären, ob sie nicht in irgendeiner Form in der Gesundheit so nachhaltig geschädigt worden sind, dass sie vielleicht nicht lange überleben werden. Das war persönlich meine große Sorge: dass Russland sie vor dem Abflug vergiftet hat. Aber nach dem, was wir bislang wissen, ist das Gott sei Dank nicht der Fall.
Ertappt man sich jemals bei dem Gedanken während dieser ganzen Verhandlung: Über so einen Deal könnte vielleicht auch der Ukrainekonflikt enden?
Man sollte diese Dinge nicht in einen Topf werfen. Ich habe Kommentare gelesen, dass man mit Putin doch nicht verhandeln wolle, und nun tue man dies doch. Wir als Deutsche verhandeln natürlich nicht mit Putin über die territoriale Integrität der Ukraine, denn das kann nur die Ukraine. Aber selbst in den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges hatten wir mit der Sowjetunion in irgendeiner Form Kontakt. Wenn es die Chance gibt, Dinge zum Besseren zu wenden, müssen wir sie ergreifen. Das haben wir im konkreten Fall getan.
Warum wollte Putin aus Ihrer Sicht unbedingt den "Tiergarten-Mörder" befreien?
Es gibt dazu die wildesten Spekulationen, an denen ich mich nicht beteiligen möchte. Aber es stimmt: Das war auffällig. Es war auffällig, dass Putin bereit war, einen sehr, sehr hohen Preis zu zahlen. Und das war auch erforderlich, weil es hier wie gesagt um einen verurteilten Mörder geht.
War das die schwerste Entscheidung Ihrer politischen Karriere?
Ja, das war es, weil es um Menschenleben ging.
Sie sind ja nicht nur Minister, sondern auch Mensch. Können Sie über einen solchen Fall mit Ihrer Familie sprechen?
Ich würde das niemandem raten, selbst wenn Sie hundertprozentiges Vertrauen haben. In dem Moment, in dem Sie sich in einem privaten Umfeld bewegen und über diese Dinge sprechen, müssen Sie damit rechnen, dass es auch Menschen erfahren können, die es nicht erfahren dürfen. Es reichen eine Smartwatch oder ein Handy in der Nähe, und die Gefahr ist da.
Ist das nicht heftig: Sie treffen die schwerste politische Entscheidung Ihrer Karriere und dürfen mit Ihrer Frau nicht darüber sprechen? Waren Sie zuhause ein anderer Mensch?
Ich war zu Hause kein anderer Mensch. Aber es gibt einfach Dinge, über die ich nicht sprechen kann. Meine Frau hat dafür sehr viel Verständnis, weil sie selber auch einen Beruf ausübt, in dem sie mit mir nicht über alles sprechen kann, was sie beruflich erfährt.
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