Eröffnungsveranstaltung des 73. Deutschen Juristentages
Schwerpunktthema: Rede
Rede des Bundesministers der Justiz, Dr. Marco Buschmann
Meldung
Es ist mein erster Juristentag als Bundesminister – und dann auch noch in Bonn: eine gleich zweifache große Freude!
Hier in Bonn, in der „kleinen Hauptstadt des Rechts“, drüben im Juridicum unweit der Hofgartenwiese, habe ich das juristische Handwerk erlernt. Hier habe ich gelernt, mir ein eigenes Urteil auf methodischer Grundlage rational zu bilden. Hier habe ich gelernt, im fachlichen Dissens zu verteidigen.
Die öffentliche Verhandlung von konfliktbefangenen Gegenständen, die die Öffentlichkeit angehen, ist ja eine wesentliche Errungenschaft der Aufklärung – gerade auch in Preußen, mit den geselligen bürgerlichen Vereinen wie der berühmten Montagsgesellschaft, oder dem blühenden Zeitungswesen.
Und hierher gehört auch der Deutsche Juristentag.
1860 – das war das Jahr Ihrer ersten Zusammenkunft, in Berlin! Es war das Jahr des beginnenden preußischen Verfassungskonflikts zwischen König und Parlament um Budgetrecht und Heeresfinanzierung. Die preußisch-deutsche Entwicklung dieser Jahre hat der Juristentag sofort mitgeprägt – die Rechtseinheit von Norddeutschem Bund und Deutschem Reich, das Bürgerliche Gesetzbuch dann.
Von Anfang an war die Arbeitsweise des Juristentages in einer Weise von demokratischen und parlamentarischen Grundstrukturen geprägt – vom Prinzip der öffentlichen Verhandlung –, dass er in der historischen Forschung tatsächlich als eine Art deutsches Vorparlament angesehen wird – vor den Parlamenten der Einigungsschritte von 1867 und 1871.
Es weht bei Ihnen also kräftig der Atem der Geschichte – aber er weht auf jedem Juristentag in die Segel des Rechtsstaats der Gegenwart!
Eine zivilisatorische Errungenschaft sondergleichen ist dieser Rechtsstaat: die Überwindung von Willkür, die Idee, dass das Recht herrscht, dass Gesetze gelten, die rechtmäßig zustande gekommen sind, und dass jeder durchsetzen kann, dass das auch tatsächlich so gehandhabt wird – eine Säule der liberalen Demokratie.
An seiner Vitalität arbeiten Sie alle als Juristinnen und Juristen mit, und nicht zuletzt hier; Sie haben ihn durch viele Ihrer Beschlüsse in den letzten Jahrzehnten mit vorangebracht, vom Kindschaftsrecht bis zum Bundesdatenschutz, vom Produkthaftungsrecht bis zum Opferschutz. Auch in diesen Tagen hier in Bonn arbeiten Sie an hochaktuellen Fragen: Zur Haftung im Bereich digitaler autonomer Systeme; zur Unmittelbarkeit im Strafverfahren, gerade im Angesicht der Digitalisierung; oder zu besserem Recht für die nachhaltige Stadt der Zukunft.
Der Rechtsstaat braucht diese fortbildende und stärkende Arbeit. Denn er steht in Europa zusammen mit der liberalen Demokratie als solcher unter Druck. Beide gemeinsam sind heute feindlich herausgefordert: militärisch, wirtschaftlich, politisch; und von außen wie von innen.
Von außen, es wird mit jedem Tag deutlicher – und mit Blick auf die Teilmobilmachung Russlands auch jede Nacht –, sind Rechtsstaat und Demokratie herausgefordert durch einen Aggressor, der uns alle meint und uns alle treffen will. Denn er zielt auf die liberale Ordnung an sich.
Wir können – das lernen wir gerade wohl – diesen Angriff des Neo-Autoritarismus nur abwehren, wenn wir es als Europa gemeinsam tun. Recht, Freiheit, Einigkeit – die großen Worte aus der deutschen Hymne; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Werte der bürgerlichen Revolution in Frankreich: Das ist Teil unserer gemeinsamen europäischen Identität – und die lässt sich nur gemeinsam behaupten. Und sie lässt sich nur im Ganzen behaupten.
Dass in dieses Jahr der gemeinsamen Bewährung der 70. Geburtstag des Europäischen Gerichtshofs fällt, mag Zufall sein. Aber, lieber Präsident Laenarts, vielleicht ist es auch ein Signal. Denn kaum eine andere Institution in Europa steht so sehr für den Raum der Freiheit, der Einheit und des Rechts!
In der Europäischen Union die Werte, die uns wichtig sind, gemeinsam noch stärker und sicherer zu machen – dass das kein Selbstläufer ist, dass das in dieser Welt, wie sie ist, nicht ohne Kampf, nicht ohne Selbstbehauptung geht: Das ist in diesem Jahr vollends deutlich geworden.
Wir haben uns dem gestellt – und wir haben auch mit den Mitteln des Rechts geantwortet. Denn auch in diesen Zeiten des Angriffs schweigt das Recht nicht. Inter arma silent leges – das galt in der Antike, das galt im Mittelalter, aber das gilt heute eben nicht mehr!
Die Institutionen des Rechts arbeiten gegen russische Kriegsverbrechen. Der Generalbundesanwalt hat Strukturermittlungen aufgenommen. Wir richten beim Generalbundesanwalt gerade zwei neue Referate ein, die den Schwerpunkt haben, in diesem Strukturermittlungsverfahren zu unterstützen. Denn das ist eine Aufgabe, die uns auf Dauer beschäftigen wird, weil es viele Jahre in Anspruch nehmen wird, Hunderttausende von Hinweisen auszuwerten. Der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof ermitteln ebenfalls. Eurojust koordiniert die Ermittlungen in Europa, seit Juni auf dafür verbesserter Rechtsgrundlage. Ich reise demnächst in die Vereinigten Staaten und spreche dort mit meinem Amtskollegen und mit Behörden über Möglichkeiten der Intensivierung der Zusammenarbeit in diesen beispiellos aufwendigen Ermittlungsverfahren.
Denn uns ist klar im Angesicht der Geschichte unseres eigenen Landes: Nirgendwo dürfen sich Kriegsverbrecher sicher fühlen; erst recht nicht in Deutschland!
Wir müssen in diesem Systemwettbewerb die eigene Identität wahren und klären, nicht sie verunklaren.
Das heißt erstens, dass wir unsere eigenen strengen rechtsstaatlichen Maßstäbe niemals aufweichen.
Wir tun alles, damit geschehene Kriegsverbrechen geahndet werden – aber in strikt rechtsstaatlichen Bahnen und dann in fairen Prozessen, wie wir es in den Prozessen gegen Assads Folterknechte gezeigt haben.
Staat und Recht müssen in einer Weise agieren, die die Prinzipien der liberalen Demokratie respektiert. Die größte Gefahr in einem solchen Konflikt ist, dass man vergisst, wer man ist. Das darf nicht sein. Darüber wachen wir auch in meinem Haus. Ich sehe das als unsere historische Aufgabe in dieser Zeit.
Dass wir in diesem Systemwettbewerb die eigene Identität wahren, fordert zweitens, dass wir uns als Gesellschaft noch offener, liberaler, moderner machen. Wir werden unsere Fortschrittsagenda in der Rechtspolitik weiter fortsetzen. Denn die Reaktion auf die russische Aggression kann ja nicht sein, dass wir aufhören, unser Land offener, liberaler und moderner zu machen. Wenn wir das täten, dann hätte Putin schon halb gewonnen mit seinem Feldzug gegen die liberale Demokratie.
Das betrifft die Gesellschaftspolitik, die Familienpolitik, das Strafrecht, die Bürgerrechte, auch weiter die Digitalisierung, auch in einem neuen Pakt für den digitalen Rechtsstaat.
Obwohl sich für den Bund die Finanzlage – das liegt ja zu Tage – verschlechtert hat: ich nenne die Stichworte Bundeswehr, Entlastungspakete, eine Rezession am Horizont, obwohl das so ist, werden wir Kräfte bündeln, um wieder etwa 200 Millionen Euro für die Justiz in den Ländern zu mobilisieren – vor allem für eine digitalere Justiz. Wir werden da eine gute Lösung finden; die Gespräche darüber mit den Ländern laufen auf Ministerebene.
Es werden auch durch die kommenden Reformen, auch durch die Digitalisierung selbst, Geld und Ressourcen für die Stärkung der Länderjustizen frei werden: etwa durch die Reform der Ersatzfreiheitsstrafe mit Einsparungen von bis zu 60 Millionen Euro jährlich; oder durch unsere Schritte zur Bewältigung von Massenverfahren – gerade haben wir etwa unseren Vorschlag für eine Umsetzung der Verbandsklage-Richtlinie in die Abstimmung gegeben.
Und wir werden eines jetzt zügig tun, bei dem wir nun seit gestern ganz klar sehen – nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Wir werden die Freiheit und Unbeobachtetheit der privaten Kommunikation wieder in ihr Recht setzen und nun endlich die anlasslose Vorratsdatenspeicherung aus dem Gesetz streichen. Wir nehmen die Grundrechte des liberalen Verfassungsstaates ernst!
Wir beenden damit einen ewig langen Streit. Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist totes Recht. Und in den wenigen Jahren, in denen sie genutzt wurde, hat sie keinen messbaren Effekt bei der Aufklärung von Straftaten erzielt. Sie ist immer wieder vor den Gerichten gescheitert.
Wir werden den Ermittlungsbehörden statt ihrer ein verfassungsgemäßes Instrument an die Hand geben. Telekommunikationsanbieter sollen beim Verdacht auf eine erhebliche Straftat schnell Daten sichern müssen – zunächst bei sich, ohne sie an die Ermittlungsbehörden herauszugeben. Schon für die Sicherungsanordnung soll ein Richtervorbehalt gelten – allerdings mit einer Eilkompetenz für die Staatsanwaltschaft. Ein Quick Freeze also.
Auch das, deshalb erwähne ich es, ist Klärung und Schärfung der eigenen Identität als liberale Ordnung.
Diese Ordnung ist aber nicht nur von außen, sondern auch von innen herausgefordert – durch Entwicklungen wie in Polen oder Ungarn, denen wir entschlossen entgegentreten; durch aggressiven Populismus; aber auch durch Gefährdungen der liberalen politischen Kultur, die leiser daherkommen.
Wir mögen in diesem Land eher keine Konflikte; und führen, wenn, dann die Attacken eher ad hominem, gegen die Person; Politiker ziehen sich aus den heutigen öffentlichen Debattenräumen zurück – etwa aus Twitter; an Universitäten und auf Tagungen und Zusammenkünften glaubt man, „safe spaces“ zu brauchen – das sind nur ein paar Stichworte, die man mühelos verlängern könnte.
Aber wäre denn die geradezu konfuzianische Harmonie, nach der sich offenbar viele sehnen, ein Segen?
Diese typisch deutsche Konfliktscheu wollte uns schon der große Ralf Dahrendorf in den frühen Jahren der Bonner Republik austreiben. Er hat uns gelehrt, dass in liberalen Ordnungen das Ziel nicht die „utopische Synthese“ sein kann und darf. Sondern es komme für eine menschliche, liberale, entwicklungsfähige Gesellschaft immer darauf an, „die Widersprüche der Normen und Interessen in Spielregeln zugleich zu bewältigen und zu erhalten“. Was für eine wunderbare Formulierung!
Argumentierender Streit und Konflikt und Wettbewerb müssen sein. Liberale Ordnungen machen Streit und Konflikt und Wettbewerb fruchtbar. Gegen Populismus muss man sich engagieren, aber nicht auf Kosten öffentlicher Debatte in der Sache.
Eben deshalb, weil hier Konflikt fruchtbar wird, geht es immer weiter – es gibt kein Ende der Geschichte wie bei Hegel, Marx oder Fukuyama.
Und weil dies alles gerade auch auf dem Gebiet des Rechts so ist, gibt es auch kein Ende der Rechtsgeschichte!
Gerade Recht wird in Westeuropa ja durch Konflikt geboren, in kontradiktorischen Verfahren, in Verhandlungen, die als Disput mit Rede und Gegenrede angelegt sind. Recht ist immer auch Streit. Was wir vor Gericht führen, ist ein Rechtsstreit.
Sie führen seit 160 Jahren beispielhaft vor, wie produktiver Streit und öffentliche Debatte funktionieren – immer mit dem Ziel, wie Sie es selbst formuliert haben, „die Notwendigkeit von Änderungen und Ergänzungen der Rechtsordnung zu untersuchen, der Öffentlichkeit Vorschläge zur Fortentwicklung des Rechts vorzulegen, auf Rechtsmissstände hinzuweisen und einen lebendigen Meinungsaustausch“ über all dies zu befördern.
Meine Damen und Herren,
das sind, flankiert von entsprechender Gesetzesarbeit, auch meine Ziele. Tun wir uns also zusammen und lassen wir die Rechtsgeschichte nie enden! Denn Fortschritt auch im Recht muss immer weitergehen!
Ich wünsche Ihnen einen guten 73. Deutschen Juristentag!
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