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"Unserer Wirtschaft fällt es bei der bürokratischen Last zunehmend schwer zu atmen"

Schwerpunktthema: Interview

Interview des Bundesjustizministers Dr. Marco Buschmann mit der Welt am Sonntag u. a. zum Bürokratieabbau, zur Reform des Unterhaltsrechts und zum Selbstbestimmungsgesetz

Meldung

zu sehen ist Dr. Marco Buschmann. Davor das Zitat: "Mit den Vorhaben aus Meseberg werden wir den Bürokratiekostenindex auf den niedrigsten Stand drücken, den er jemals hatte. Das wird spürbar."
Quelle: BMJ/Dominik Butzmann

Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.

Herr Buschmann, Sie haben der Koalition vor der Sommerpause empfohlen, in der zweiten Hälfte der Legislatur die Wirtschaftspolitik ins Zentrum zu rücken. Was wird der Justizminister dazu beitragen?

Unserer Wirtschaft fällt es bei der bürokratischen Last zunehmend schwer zu atmen. Viele Unternehmen leiden unter einem regelrechten Bürokratie-Burn-Out. Wir müssen diese Erschöpfungssymptome ernst nehmen und Druck von den Unternehmen nehmen. Die viele Regeln auf europäischer, auf Bundes- und auf Landesebene beanspruchen so viel Zeit und Anstrengung, dass sich Unternehmen zu wenig um ihr Kerngeschäft kümmern können. Das ist ein Wachstumshemmer. Wir bereiten gerade Eckpunkte für ein Entlastungsgesetz vor, wie Unternehmen von einem Teil der Bürden befreit werden können, die der Bund bislang auferlegt hat.

Das wird das vierte Bürokratie-Entlastungsgesetz seit 2015. Wirtschaft und Bürger haben von den ersten dreien wenig gespürt. Warum sollte das jetzt anders sein?

Wir werden mit unserem Entlastungsgesetz und dem Wachstumschancengesetz von Finanzminister Lindner ein stattliches Volumen an Entlastung erreichen. Mit den Beschlüssen, die wir kommende Woche bei der Kabinettsklausur in Meseberg fassen wollen, leiten wir eine Trendwende ein: Weg von bürokratischem Aufwuchs, hin zu Entlastung und Freiraum. Aber wir dürfen uns damit nicht zufriedengeben. Ich könnte mir etwa ein System vorstellen, das der Managementdenker Fredmund Malik eine „systematische Müllabfuhr“ nennt: Regelmäßig müssen wir prüfen, welche Regeln und Auflagen wirklich notwendig sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Man könnte etwa vorübergehend Vorschriften aussetzen, um dann zu analysieren, ob dies zu größeren Verwerfungen führt - oder ob nicht eine endgültige Aufhebung möglich ist. Und wir müssen mit dem Bürokratieabbau auf anderen Ebenen weitermachen: Viele Vorschriften kommen aus Europa. Zusammen mit Wirtschaftsminister Habeck will ich mit der EU-Kommission darüber sprechen, wie Bürokratie systematisch auch auf dieser Ebene abgebaut und die Schaffung neuer Bürokratie vermieden werden kann. Bürokratieabbau ist kein abgegrenztes Projekt, sondern eine Daueraufgabe.

Ziehen die Kabinettskollegen mit?

Die wirtschaftliche Stärkung unseres Landes wollen alle. Für unsere Eckpunkte sind wir jetzt auf der Zielgeraden. Mit den Vorhaben aus Meseberg werden wir den Bürokratiekostenindex auf den niedrigsten Stand drücken, den er jemals hatte. Das wird spürbar. Aber es gibt auch Kollegen, die jetzt zum Entlastungsgesetz wenig zuliefern, aber mit eigenen Initiativen in ihren Geschäftsbereichen bürokratischen Ballast abwerfen wollen. Darüber hinaus bin ich beispielsweise mit Robert Habeck im Gespräch, der das Vergaberecht anpacken will. So richtig durchatmen werden wir allerdings erst, wenn wir substanziell auch auf europäischer Ebene etwas bewirken. Ich werbe dafür, die Idee des Bürokratiekosten-Index auf die EU und die Bundesländer zu übertragen. Jeder könnte dann sehen, ob er steigt oder fällt – und wer dafür verantwortlich ist. Diese Transparenz ist ein starker Anreiz, um das Problem ernsthaft anzugehen.

Ihr Anliegen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, wird von den Grünen offenbar nicht geteilt. Oder wie erklären Sie sich das Veto von Familienministerin Lisa Paus gegen ein von Finanzminister Lindner vorgelegtes Gesetz zur Entlastung der Unternehmen?

Ich würde da nicht pauschal von den Grünen sprechen. Der Wirtschaftsminister hatte ja bereits grünes Licht gegeben, ehe Frau Paus dann wieder die Stop-Taste gedrückt hat. Wichtig ist, dass das Wachstumschancengesetz jetzt schnell kommt. Bei unserer wirtschaftlichen Lage können wir uns keine weitere Verzögerung leisten.

Ihr FDP-Kollege Schäffler nennt Paus ein „personifiziertes Standortrisiko“. Wie soll eine Koalition mit so einem Umgangston konstruktiv zusammenarbeiten?

Ach wissen Sie, es gibt immer mal solche emotionalen Zuspitzungen aus allen Parteien. Wenn ich mir anschaue, was sich der Finanzminister schon alles anhören musste oder auch ich. Ich würde uns als Koalition empfehlen, insgesamt weniger übereinander zu schimpfen, sondern härter an Problemlösungen zu arbeiten. Das ist besser für die eigenen Nerven und das gesamte Land.

Sie arbeiten ja auf verschiedenen Feldern mit Ihrer Kollegin Paus zusammen, unter anderem auch bei der Abfassung des Unterhaltsrechts. Wie läuft das?

Ein wichtiges gemeinsames Projekt ist das Selbstbestimmungsgesetz. Das war diese Woche im Kabinett. Da haben wir intensiv zusammengearbeitet. Wir haben nun einen guten Entwurf hinbekommen, der Diskriminierung beseitigt, aber Missbrauch ausschließt. Für das Unterhaltsrecht liegt die Federführung bei meinem Haus. Aber auch da werden wir professionell zusammenarbeiten. Wir müssen das Familienrecht dringend auf die Höhe der Zeit bringen. Das Unterhaltsrecht geht noch immer von der alten Vorstellung aus: Einer betreut, einer zahlt. Diese Regel entspricht längst nicht immer der Lebenswirklichkeit. Heute werden viele Kinder von beiden Eltern betreut - auch nach einer Trennung. Genau dies muss sich im Unterhaltsrecht abbilden. Unser Entwurf ist ein Entwurf für Kinder und ihre Eltern.

Gegen das Selbstbestimmungsgesetz hatte das Bundesinnenministerium lange Bedenken. Die beziehen sich wohl auf Fragen, wie man mit Straftätern umgehen soll, die vor oder nach der Verurteilung ihr Geschlecht neu bestimmen wollen. Teilen Sie diese Bedenken der Kollegin Faeser?

Wir haben alle Bedenken genau analysiert und uns Zeit genommen, um das Gesetz gründlich vorzubereiten. Wir haben nun selbst für theoretische Fragen Regelungen geschaffen, etwa: Was geschieht, falls die ausgesetzte Wehrpflicht wieder aktiviert werden sollte? Auch die Punkte, die das Bundesinnenministerium formuliert hat, sind berücksichtigt. Straftäter werden dieses Gesetz nicht missbrauchen können, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Das war natürlich in unserem gemeinsamen Interesse.

Man hat zuweilen den Eindruck, der Koalition gelinge nicht, die für Wachstum und Wohlstand nötigen Großreformen auf den Weg zu bringen, dafür aber tummelt sie sich umso lustvoller auf den Feldern der Gesellschaftspolitik – von Geschlechterfragen angefangen bis hin zur Freigabe des Cannabis. Widerspricht das nicht der Mehrheit des Wählerwillens?

Wenn man als Regierung von einer Sache überzeugt ist, dann muss man sie machen und darf sich nicht davon abschrecken lassen, dass es auch Kritik gibt. Dass die repressive Drogenpolitik bei Cannabis gescheitert ist, sieht jeder, der sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzt. Daher gibt es auch viele Umfragen, die eine Mehrheit für eine neue Drogenpolitik belegen. Es ist ein Fortschritt, den Gesundheitsschutz dadurch verbessern, dass wir den Umlauf dieses Stoffes kontrollieren. Und es ist gut, junge Menschen nicht in die Hände von Kriminellen zu treiben. Im Übrigen haben wir aus unserer Überzeugung nie ein Staatsgeheimnis gemacht. Das Projekt steht in sämtlichen Wahlprogrammen der Koalitionsparteien. Dass man nach der Wahl tut, was man davor versprochen hat, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

Die EU-Kommission hat vor der Sommerpause ihren Rechtsstaatlichkeitsbericht vorgelegt. Darin wird kritisiert, dass Deutschland „keine weiteren Fortschritte“ erzielt habe, um für die staatliche Kernaufgabe Justiz genügend Ressourcen bereitzustellen. Wie kann das sein unter einem liberalen Justizminister?

Zunächst einmal ist die Beurteilung der Justiz in Deutschland generell sehr gut ausgefallen. Bei der Kritik geht es vor allem um eine die Unabhängigkeit der Richter garantierende Besoldung, auch im Verhältnis zum privaten Arbeitsmarkt. Bei den Bundesrichtern, für die ich zuständig bin, sehe da keine Probleme. Für die Richter an den Amts-, Landes- und Oberlandesgerichten sind die Bundesländer zuständig. Daher kann ich diese Nachricht aus Brüssel nur als Bote weiterleiten.

Es geht auch um Personal. Sie haben im Koalitionsvertrag eine Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat verabredet – also eine Anschubfinanzierung für neue Justizposten durch den Bund, die von den Ländern dann dauerhaft finanziert werden. Warum haben Sie diese Ankündigung, die Rede war von bis zu zwei Milliarden Euro, einkassiert?

Solche Zahlen waren nie verabredet. Der Ausgangspunkt ist anders. Die letzte Bundesregierung hatte einen Pakt für den Rechtsstaat aufgelegt, der etwa 220 Millionen Euro umfasst hat. Wir wollen natürlich auch die Justiz weiter stärken. Mit unserer Digitalisierungsinitiative für die Justiz aktivieren wir jetzt Mittel in der gleichen Größenordnung. Wir bündeln mit den Ländern unsere Kräfte für die Digitalisierung, also für zeitgemäße Arbeitsmittel, für eine moderne Justiz, damit auch die Bürgerinnen und Bürger einen einfacheren Zugang zur Justiz erhalten – und das in Zeiten einer stark angespannten Haushaltslage. Wir leisten einen substanziellen Beitrag zur Stärkung der Justiz.

Der Deutsche Richterbund sagt: Unsere erste Priorität ist nicht Digitales, sondern Personal. Kritisiert wird auch Ihr Gesetz zur Tonaufzeichnung im Strafverfahren. Der Richterbund sieht darin ein Mittel für Rechtsanwälte, die Verfahren zu verzögern. Ist der frühere Anwalt Buschmann ein Lobbyist der Anwaltschaft?

Ich trage Verantwortung für die Justiz als System, das den Menschen dient – nicht einer einzelnen Berufsgruppe. Dass ein Verein, in dem sich Richter und Staatsanwälte organisieren, sagt: Wir wollen besser bezahlt werden oder mehr Planstellen – das ist ja das Normalste der Welt und völlig legitim. Aber von Verfassungswegen sind die Ansprechpartner dafür die Landesjustizminister.

Und der Lobbyvorwurf?

Unsere Strafrechtspflege ist dem Denken der Aufklärung und dem Respekt vor dem Individuum verpflichtet. Es geht mir, wenn Sie so wollen, um die Fortschreibung des Weges, den der große Strafrechtler Cesare Beccaria im 18. Jahrhundert eingeschlagen hat: Wenn ein Mensch um seine Freiheit, sein Eigentum und seinen guten Namen vor Gericht kämpft, hat er einen Anspruch darauf, dass man mögliche Fehlerquellen so gut es geht ausschließt. Die menschliche Aufnahme- und Erinnerungsfähigkeit ist aber nun einmal begrenzt. Viele kennen diesen Spruch aus amerikanischen Filmen: Streichen Sie das aus dem Protokoll! Bei uns geht das nicht. Denn wir haben gar kein vergleichbares Wortlaut-Protokoll, aus dem man etwas streichen kann. Es gibt nur selektive Wahrnehmungen des Richters. Durch die Tonaufzeichnung ändern wir das. Die Geschichte des Strafprozessrechts lässt sich auch als eine Geschichte des Kampfes dagegen schreiben, dass Erinnerungsfehler und Wahrnehmungsverzerrungen unschuldige Menschen ins Gefängnis bringen. Diesen Weg setzen wir mit aktueller Technologie fort.

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