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„How to fight crime on the internet and to protect privacy and civil liberties“

Keynote von Dr. Marco Buschmann MdB, Bundesminister der Justiz, beim German Symposium der London School of Economics am 11. Februar 2022 | deutsche Version

Rede
Dr. Marco Buschmann

Ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein. Eine großartige Sache, das German Symposium der LSE, in seiner nun schon über zwei Jahrzehnte langen Tradition.

Und ebenso gern bin ich – wenn auch leider nur virtuell – Teil einer Zusammenkunft, die Sie selbst einen Beitrag zu einem Neustart der kontinentaleuropäisch-britischen Beziehungen nach dem Brexit nennen!

Ganz gleich, wie die gegenwärtige rechtliche Beziehung zwischen dem Kontinent und Großbritannien ist: England, Großbritannien bleiben das Vorbild, gerade für einen Liberalen. Das selbstbewusste, wehrhafte Parlament, die Magna Charta, die großen liberalen Denker, John Locke, Adam Smith, David Hume, John Stuart Mill – was uns heute im Westen prägt, was uns Deutsche prägt, was wir begeistert gelesen haben, ist englisch, schottisch, walisisch, irisch! Edmund Burke will ich noch nennen, aus Dublin.

Ein großer Engländer aber kam aus Hamburg. Ralf Dahrendorf, Member of the House of Lords, Baron Dahrendorf, of Clare Market in the City of Westminster – Clare Market ein Platz nahe Ihrer LSE, wenn er auch als Parkplatz dient, wie ich höre – und eben vor allem: Student und Direktor der LSE!

Ralf Dahrendorf – für mich Vorbild eines Liberalen, Mitglied meiner Partei, der FDP, später der Liberal Democrats, der Freiheit umfassend verstand. Und der immer darauf drang, dass sie das Versprechen nicht nur für eine gutgestellte Minderheit bleibe. Chancen für alle! „Bildung ist Bürgerrecht“, das war seine Formulierung!

Und Dahrendorf führt uns mitten ins heutige Thema. Er lehrte uns – uns Deutsche vor allem, wir hatten und haben es nötig, bis heute: Der Konflikt gehört zur offenen Gesellschaft und zur liberalen Demokratie. Gesellschaft ist Konflikt. Konflikt, Position und Gegenposition, Spruch und Widerspruch – all das hält Gesellschaft und Demokratie offen und entwicklungsfähig. Die liberale Demokratie ist der Weg, Konflikt fruchtbar zu machen. Kein Wandel, kein Fortschritt ohne Konflikt. Geschichte ist offen, Welt und Wahrheit sind unsicher, die Anmaßung von überlegenem Wissen bleibt eben immer dies: Anmaßung!

„Nicht die utopische Synthese“, so seine Worte, „sondern die in Spielregeln zugleich bewältigten und erhaltenen Widersprüche der Normen und Interessen“ machen eine menschliche, liberale, entwicklungsfähige Gesellschaft aus. (1961)

Das wusste schon Kant – der viel schlagender formulieren konnte, als man das von ihm zu wissen glaubt: „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“ (1784)

Also, mein erster Punkt: Mit Dahrendorf lernen wir auch eine Gelassenheit angesichts von Konflikten – und eine Vorsicht bei der Verwendung des Wortes „Spaltung“ für unsere heutigen Gesellschaften, wenn es verschiedene Meinungen gibt. Spaltung ist das, was manche wollen – aber die bloße Existenz verschiedener Ansichten, auch grundverschiedener Ansichten, ist erst einmal nur der Stoff, an dem sich liberale Demokratien nun einmal abzuarbeiten haben.

Aber trotzdem: Wir haben es natürlich auch mit Konflikten und Radikalisierungen zu tun, denen wir entgegentreten müssen. Aber mit rechtsstaatlichen, freiheitsschonenden Mitteln.

Als Verfassungsminister, der ich als deutscher Justizminister bin, will ich die Frage dieser Keynote, „How to fight crime on the internet and to protect privacy and civil liberties“, zunächst schlicht und kurz beantworten: Indem wir unsere Verfassung, das Grundgesetz, beachten! Das formuliert Maßstäbe, um zu beurteilen, und verfolgen und bestrafen zu können, wann Freiheit beginnt, Freiheit zu zerstören – und andersherum, wo staatliches Handeln enden muss, um individuelle Freiheit zu erhalten.

Das ist das deutsche Verfassungsverständnis: geprägt durch die Nazi-Diktatur, aber auch durch den Staatsterror der DDR. Daher die Skepsis des deutschen Grundgesetzes auch gegenüber dem Gesetzgeber.

Das ist anders als in der britischen Tradition eines Primats des Parlaments.

Wir haben Verfassungsregeln, die den Gesetzgeber binden, die rechtliche Stoppschilder aufstellen. Das Parlament muss sich vor der Verfassung rechtfertigen. Richter können Gesetze aufheben.

In dieser verfassungsstrukturellen Welt sage ich also: Man schützt die freiheitliche Rechtsordnung nicht, indem man Freiheitsrechte aufhebt. Gerade die Meinungsfreiheit ist der Kern der liberalen Demokratie. Die liberale Demokratie verteidigt man nicht, indem man die Grundrechte in Zweifel zieht.

Wir haben als liberale Opposition im deutschen Parlament in den vergangenen Jahren immer genau darauf gedrungen. Wir dürfen jetzt als Teil der Regierung, und ich im Amt des Justizministers, eine Politik in diesem Geiste machen!

Wir werden in den kommenden Jahren die Bürgerrechte stärken, analog und digital.

Wir wollen zum Beispiel ein individuelles Recht auf Verschlüsselung im Netz schaffen. Schutz der Privatsphäre durch digitale Technik; das Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum – auch im Internet: Darum geht es.

Wir wollen für das staatliche Aufspielen von Schadsoftware, für den Einsatz des bei uns sogenannten „Staatstrojaners“, strengere rechtsstaatliche Regeln und Voraussetzungen schaffen.

Wir werden die Vorratsdatenspeicherung, die bei uns im Gesetz steht, in ihrer heutigen Form beenden, weil wir in ihr einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte sehen: Denn er betrifft auch unbescholtene User und kann das Gefühl erzeugen – so hat es der Europäische Gerichtshof formuliert –, dass unser Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist.

Wir werden alle relevanten Gesetze ansehen und grundrechtssensibel eine Überwachungsgesamtrechnung erstellen: Wir wollen einen Überblick, wie weit die technischen und rechtlichen Möglichkeiten zur Überwachung reichen – und ob sie einen Sicherheitsgewinn bringen.

Wir werden also mit dem Prinzip Ernst machen: Jeder Eingriff in Bürgerrechte verlangt eine sehr gute, eine tragfähige und evidenzbasierte Begründung.

Gerade beunruhigt uns in Deutschland die Rolle von Plattformen und Sozialen Netzwerken für das, was wir als Vergiftung der politischen Atmosphäre betrachten: Hassrede, Morddrohungen, Gewaltpropaganda, Aufrufe zu bedrohlichen Versammlungen, die Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten einschüchtern sollen.

Ich will Ihnen hier – um meine Ausführungen zum Thema der Keynote noch konkreter zu machen – einen kurzen Überblick geben: über die Problemlage, die bestehende Regulierung und Pläne zur Regulierung, über Rechtslage und Strafverfolgung.

Und ich will dabei deutlich machen: Man kann im Internet Recht setzen und durchsetzen – und es in einem liberalen Geist tun!

Wir haben in Deutschland seit 2017 ein Gesetz zur Regulierung der Sozialen Netzwerke: Das Gesetz verpflichtet Online-Dienste, ihnen gemeldete Inhalte binnen 24 Stunden zu entfernen; wenn sie offensichtlich illegal sind, bei anderen rechtswidrigen Inhalten gilt eine Frist von sieben Tagen.

Ich will gleich sagen, dass ich aus liberaler Sicht in dieser Regelung auch ein Problem sehe: Sie birgt die Gefahr, dass soziale Netzwerke lieber zu viel löschen als zu wenig. Wir machen so private Unternehmen, die schon sehr mächtig sind, noch mächtiger, indem wir sie in gewisser Weise zu Schiedsrichtern über die Grenzen der Meinungsfreiheit machen.

Aber diese Regelung ist Gesetz. Und sie gilt auch für einen Dienst wie Telegram, der uns Sorgen macht, weil er auch von rechtsextremistischen Gruppen und Gewaltpropagandisten genutzt wird. Telegram ist nicht nur ein Messenger-Dienst. Es gibt bei Telegram auch offene Kanäle, einige mit mehr als 100.000 Nutzern.

Soziale Netzwerke müssen einen Ansprechpartner in Deutschland benennen und einen leicht erkennbaren Meldeweg für strafbare Inhalte einrichten. Daran hält sich Telegram nicht. Wir versuchen, das durchzusetzen, aber das ist nicht leicht bei einem Dienst, dessen Sitz in Dubai ist. Ganz elementar: Wo stellen wir Aufforderungen und Bescheide zu? Hier stößt der territoriale Nationalstaat an Grenzen.

Wir setzen da deshalb jetzt auch auf Europa. Hassrede im Netz ist ein Phänomen, das ganz Europa betrifft. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mit dem Digital Services Act, dem DSA, gerade einheitliche europäische Vorgaben für soziale Netzwerke verhandeln.

Nach dem DSA sollen Pflichten auch für Messenger-Dienste gelten, wenn dort Inhalte öffentlich verbreitet werden und der Dienst einem sozialen Netzwerk gleicht – etwa auch hier die Pflicht, eine einzige elektronische Kontaktstelle in einem der Mitgliedstaaten zu benennen, die eine direkte Kommunikation mit den Aufsichtsbehörden ermöglicht. Das ist der Versuch, die digitale Globalisierung und das klassische Territorialprinzip zusammenzubringen: Es muss einen Zustellbeauftragten geben.

Das wäre auch die Grundlage für das, was wir in diesem Bereich viel mehr brauchen: schlicht Strafverfolgung und Verurteilungen. Denn, das ist mein zweiter Punkt in diesem Überblick: Die rechtlichen Instrumente liegen alle auf dem Tisch.

Beleidigungen; die Billigung von schweren Straftaten; die Bedrohung mit schweren Straftaten; die Verbreitung von sogenannten Feindeslisten: All das steht nach geltendem Recht unter Strafe. Die Verfolgung solcher Straftaten läuft in vielen Fällen auch erfolgreich. Wichtig ist ein hoher Fahndungsdruck im Netz, etwa durch Online-Streifen. Wie auf den öffentlichen Plätzen in der analogen Welt, muss die Polizei auch auf den öffentlichen Plätzen in der digitalen Welt präsent sein und einschreiten, wenn dort Recht verletzt wird.

Und Strafverfolgung in Deutschland wird intensiver werden. Gerade vor wenigen Tagen hat beim Bundeskriminalamt eine zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet die Arbeit aufgenommen. Die nimmt Hinweise auf Hass und Hetze im Netz entgegen, um sie an die zuständigen Strafverfolgungsstellen weiterzuleiten.

Auch die sozialen Netzwerke selbst tragen eine Verantwortung. Der DSA wird größere Online-Plattformen verpflichten, Straftaten zu melden. Die Plattformen haften nicht für illegale Inhalte, solange sie ihren Inhalt nicht kennen. Diesen Grundsatz des „Notice and Take-down“, gewissermaßen eines der Grundprinzipien des Internets, halte ich noch immer für richtig. Aber der DSA formuliert klare Verfahren, nach denen solche illegalen Inhalte entfernt werden müssen.

So wichtig all diese Bemühungen sind, sie haben einen Haken. Etwa bei Telegram kommunizieren rechtsextremistische Gruppen, die dorthin gegangen sind, nachdem auf anderen Plattformen, auf Facebook oder Instagram die entsprechenden Accounts gelöscht wurden. Es gibt Ausweichbewegungen, und es wird sie immer geben.

Probleme, die in der analogen Welt ihren Ursprung haben, beseitigt man nicht, indem man ihre Äußerungen im Netz beseitigt.

Wir kommen um die Anstrengung des Arguments, des Streitens für Freiheit und Menschenwürde nicht herum. Und wir müssen noch besser verstehen, wie und warum sich Menschen im Netz radikalisieren. Wir wissen noch zu wenig darüber. Deshalb hat mein Haus mehrere Forschungsaufträge dazu vergeben.

„How to fight crime on the internet AND to protect privacy and civil liberties“ – ich komme noch einmal zu diesem AND: Schon das Vorgehen gegen Hatespeech – und das ist mir wichtig – ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern ist auch eine Verteidigung der Meinungsfreiheit! Drohungen, aggressive Beleidigungen sollen Menschen ja gerade einschüchtern, mundtot machen, ausschließen aus dem Diskursraum! Dagegen vorzugehen, ist Schutz der Bürgerrechte und Schutz des freien und offenen Diskurses! Man müsste also eigentlich hier ein „thereby“ ergänzen: „How to fight crime on the internet and THEREBY to protect privacy and civil liberties“.

Der Staat hat die Meinungs- und Redefreiheit auch deshalb sehr weitgehend zu schützen, weil gerade aus der Gesellschaft heraus immer wieder Meinungsdruck, Konformitätsdruck entsteht. Die Mehrheit, auch die nur scheinbare Mehrheit, kann sehr einschüchternd sein. Das sahen schon Liberale wie Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill im 19. Jahrhundert. Und Einschüchterung von Mindermeinungen, auch wenn viele sie absurd finden, können wir Menschen uns nicht leisten.

Diese klassische Begründung der Meinungsfreiheit hat John Stuart Mill sehr eindrucksvoll 1859 in seinem Essay „On Liberty“, „Über die Freiheit“, entwickelt: Es gibt den grundsätzlich überlegenen Standpunkt nicht, von dem man – im Besitz der Wahrheit – die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit aller anderen ein für alle Mal beurteilen könnte. Das zeigt auch die historische Erfahrung. Wahrheit ist etwas, dem wir uns nur annähern, indem wir jede Meinung hören – und wenn es ein Einziger wäre, der anderer Meinung ist als alle anderen.

Timothy Garton Ash hat das in seinem Buch über die Redefreiheit vor Jahren für unsere digitale Zeit formuliert. Er empfiehlt eine robuste Zivilität, wie er sie nennt: sich ein dickeres Fell zuzulegen; weniger beleidigt zu sein; Empfindlichkeit auch zu mäßigen, um Freiheit nicht zu ersticken – gegen eine geduckte und ängstliche kommunikative Atmosphäre, die den Diskursraum verengt. Und er empfiehlt, der Hassrede immer auch mit Gegenrede, nicht nur mit Strafverfolgung entgegenzutreten!

Auch in der Hinsicht können wir uns immer von den Briten etwas abgucken, die ja wie kaum jemand in Rede und Gegenrede durch die frühe Debating-Schulung geübt sind!

Insofern freue ich mich auf Ihre Gegenrede in unserer Diskussion und auf die Debatte mit Ihnen!

‒ Es gilt das gesprochene Wort! ‒

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