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Deutscher Anwaltstag

Rede des Ministers beim Deutschen Anwaltstag am 23. Juni 2022 in Hamburg

Rede
Dr. Marco Buschmann

Liebe Frau Kindermann,
lieber Gerhart Baum,
sehr geehrte Damen und Herren!

Das ist mein erster Anwaltstag als Minister – ich freue mich sehr.

Es sind existenzielle Zeiten für das Recht, in denen Sie hier zusammenkommen. Zeiten existenzieller Herausforderungen, aber auch neuer Chancen zu begreifen, wie eng das Recht, dem ja immer etwas Formelles anhaftet, und die Freiheit, die ja laut Hannah Arendt das materielle Ziel aller Politik ist, miteinander zusammenhängen!

Morgen, am 24. Juni, wird es genau vier Monate her sein, dass Putin die Ukraine überfallen hat – ein barbarischer Bruch des Völkerrechts. Und auch nach vier Monaten hat dieser Krieg nichts von seinem Schrecken verloren.

Wir hören jeden Tag von Toten, wir lesen von Verwundeten, wir sehen in TV und Internet die Folgen der Bombardierung von Städten, der Vernichtung lebensnotwendiger Infrastruktur. Wir hören das jeden Tag, und obwohl wir es jeden Tag hören, dürfen wir uns niemals daran gewöhnen! Denn wenn wir uns daran gewöhnen, laufen wir Gefahr, nachzulassen in unseren Anstrengungen, der Ukraine zu helfen: militärisch, finanziell, humanitär; nachzulassen in der Verfolgung der Kriegsverbrecher; nachzulassen in unserem Bemühen, das Leiden der Menschen zu lindern.

In all dem nicht nachzulassen, das sind wir der Ukraine schuldig, das sind wir auch Europa und das sind wir uns selbst schuldig.

Wir sind erschüttert von diesem Einbruch des schlimmsten 20. Jahrhunderts in unsere europäische Gegenwart; wir sind erschüttert, aber wir befinden uns nicht in einer Schocklähmung.

Wir müssen uns in vielem sehr schnell neu sortieren, und tun es ja, sind ja dabei. Und wir haben etwa schnell und auf vielen Ebenen begonnen, die Institutionen des Rechts gegen russische Kriegsverbrechen arbeiten zu lassen.

Wir tun alles, damit geschehene Kriegsverbrechen geahndet werden. Der Generalbundesanwalt ermittelt, Eurojust koordiniert die Untersuchungen, es gibt internationale Kooperation – dafür setze ich mich persönlich ein.

Wir tun das in strikt rechtsstaatlichen Bahnen und dann später in fairen Prozessen, wie wir es in den Prozessen gegen Assads Folterknechte gezeigt haben. Ich habe es gesagt und werde es nun wieder tun: Kriegsverbrecher dürfen sich nirgendwo sicher fühlen, erst recht nicht in Deutschland!

Wir sanktionieren Personen, die Putins System direkt unterstützen und direkt von ihm profitieren – aber tun das nach unseren eigenen strengen rechtsstaatlichen Maßstäben.

Ich sage das alles, weil wir eines nicht tun dürfen. Im Kampf gegen Putins Angriff dürfen wir Freiheit und Recht keinen Deut aufgeben!

Denn Putins Krieg gilt nicht nur der Eroberung von Land, Einflusssphären, Rohstoffen. Putin will die Ukraine daran hindern, eine liberale Demokratie zu sein. Mit seinem Krieg gegen die Ukraine hat er Freiheit und Selbstbestimmung angegriffen, in all ihren Formen.

Man fühlt sich heute neu an die warnende Rede des US-Präsidenten Harry S. Truman aus dem Jahr 1947 erinnert: an die Warnung, die er mit Blick auf das stalinistische Russland aussprach, die Warnung vor einem System, in dem eine Minderheit – seien es nun Parteibonzen oder Oligarchen – die Mehrheit unterdrückt, einem System, in dem die Institutionen die Mächtigen nicht mäßigen, sondern ihnen bei der Unterdrückung der Mehrheit assistieren, in dem es keinen Respekt vor der Würde und der Freiheit des einzelnen Menschen gibt und das nicht mit seinen Nachbarn friedlich Handel treibt, sondern sie überfällt, demütigt und quält.

Wir stehen in diesen Zeiten also mitten in einer neuen Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Autoritarismus, zwischen liberaler Demokratie und Autokratie. Und in dieser Auseinandersetzung müssen und wollen wir das bleiben, was wir sind: eine liberale Demokratie. Und dazu gehört unverzichtbar die Bindung an Verfassung, Grundrechte und Gesetz – auch wenn es manchmal schwerfällt. Denn das ist ja gerade das „Liberale“ an der liberalen Demokratie, dass neben die Macht des Mehrheitswillens die Mäßigung durch Verfassung, Recht und Grundrechte tritt.

Wir wollen liberale Demokratie bleiben; und wir wollen es noch mehr sein. Jetzt erst recht, meine Damen und Herren! Diese Bundesregierung will Deutschland freier, toleranter und moderner machen. Das ist das Versprechen der Fortschrittskoalition.

Und das sind eben nicht falsche Prioritäten in Zeiten von Putins Krieg; sondern das alles sind auch wichtige Zeichen im Kampf der Gesellschaftsmodelle. Wenn wir bei aller entschlossenen Unterstützung der Ukraine diese liberale Agenda nun aufgäben oder auch nur zurückstellten, hätte Putin in seinem Krieg gegen die Freiheit schon ein Stück weit gewonnen. Es ist eine überfällige Fortschrittsagenda – und wir werden an ihr festhalten.

Wir werden die Selbstbestimmung im Familienrecht stärken durch neue Möglichkeiten in einer neuen Zeit. Wir bringen das Recht hier endlich wieder auf die Höhe der längst gelebten Wirklichkeit.

Verschiedene Modelle der gemeinsamen Sorge für Kinder in getrennt lebenden Familien; Mitmutterschaft in Partnerschaften zwischen zwei Frauen; Verantwortungsgemeinschaften von älteren Menschen oder Alleinerziehenden: Längst gelebte Formen von Familie, längst gehegte Wünsche des dauerhaften und abgesicherten Miteinanders werden wir im Recht ermöglichen, im Alltag erleichtern. Und wir werden dabei zeigen, dass nicht Sodom und Gomorrha ausbricht, wenn mehr Freiheit und Selbstbestimmung zwischen erwachsenen Menschen herrschen.

Wir stärken, zweites großes Feld, die Bürgerrechte – gerade auch im digitalen Raum. Wir folgen wieder dem Verfassungsprinzip, dass jede Einschränkung unserer Freiheit erforderlich, geeignet und verhältnismäßig mit Blick auf den angestrebten Zweck zu sein hat.

Genau das haben wir auch in der Pandemie getan. Es ist ja immer wieder nötig, das zu begründen. Wir haben genau hingesehen, ob die Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen noch in einem vertretbaren Verhältnis zum Gewinn an Schutz und Sicherheit standen. Ein solches vertretbare Verhältnis war in der Lage, wie wir sie im März hatten, nicht mehr gegeben.

Vor diesem Hintergrund stehe ich zu einem Gedanken: Wenn es nicht notwendig ist, in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einzugreifen, ist es notwendig, nicht in die Grundrechte einzugreifen!

Und bei all den schwierigen Kontroversen im Februar muss man doch mit dem Wissen von heute sagen, dass unsere Entscheidungen richtig und verantwortbar waren. So hat es die Lage im März, April, Mai und Juni gezeigt.

Wir setzen Freiheit wieder in ihr Recht, wenn es die Lage erlaubt. Im freiheitlichen Rechtsstaat gilt: Wenn die Gefahr zurückgeht, muss ich auch Gefahrenabwehrmaßnahmen zurücknehmen.

Natürlich ist die Pandemie nicht vorbei. Corona wird bleiben und solange eine Überlastungsgefahr besteht, müssen wir das auch sorgfältig im Blick behalten. Dazu gehen wir jetzt in einem vernünftigen gesetzgeberischen Fahrplan, wissenschaftlich evaluiert, besonnen und lageangepasst, mit Reaktionsmöglichkeiten, wie wir sie dann brauchen, in den Herbst.

Mein festes Ziel ist jedenfalls, dass wir die Phase verkürzter Gesetzgebungsverfahren, im Eil- und Improvisationsmodus hinter uns lassen. Und das wird der Qualität der Gesetze, die dabei herauskommen, auch zu Gute kommen.

Verhältnismäßigkeit ist uns auch in anderen Handlungsfeldern Orientierung.

Wir werden eine Überwachungsgesamtrechnung machen und die Wirkung der geltenden Sicherheitsgesetze auf die Bürgerrechte wissenschaftlich evaluieren. Sie beteiligen sich als DAV daran bereits mit wichtigen Partnern – ich danke Ihnen dafür!

Und wir winken nicht jede Freiheitseinschränkung durch, nur weil jemand behauptet, sie bringe mehr Sicherheit.

Der neueste Fall ist der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Chatkontrolle, zur anlasslosen Kontrolle verschlüsselter Kommunikation. Wer sich diesem Vorschlag anschließt, vergreift sich an der Privatsphäre von Millionen von Menschen.

Begründet wird es mit dem Schutz von Kindern. Doch der Deutsche Kinderschutzbund sagt: Das sei ein ziemlich sinnloses, unverhältnismäßiges und nicht zielführendes Instrument. Der Deutsche Kinderverein sagt sogar, das Kindeswohl werde vorgeschoben, um dieses Instrument durchzusetzen. Nein: Chatkontrollen haben im Rechtsstaat nichts verloren.

Ich will aber auch dies sagen: Der Vorschlag der Kommission enthält eine Regelung zur Löschung kinderpornographischer Inhalte. Das begrüße ich ausdrücklich. Wir müssen schon jetzt alles versuchen, damit kinderpornographische Inhalte so schnell wie möglich gelöscht werden. Wenn es hier an den Rechtsgrundlagen oder Zuständigkeiten hapert, sollte man hier nachbessern.

Es braucht vor allem ein höheres Risiko für Besitzer von Missbrauchsdarstellungen, entdeckt zu werden. Es braucht mehr Polizisten, die im Netz auf Streife gehen.

Lassen Sie mir auch ein paar Sätze zur Vorratsdatenspeicherung sagen. Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich nun mit dem Thema. Immer neue Begründungen für das immer gleiche Instrument, das immer wieder vor den Gerichten scheitert, vor dem Bundesverfassungsgericht, vor dem Europäischen Gerichtshof, vor dem Oberverwaltungsgericht Münster.

Um endlich Rechtsfrieden herzustellen, und im Sinne von Freiheit und Sicherheit, lautet unser Plan: Wir streichen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Und schlagen stattdessen vor: Telekommunikationsanbieter sollen beim konkreten Anlass einer schweren Straftat, die sich ereignet hat, schnell Daten sichern müssen – zunächst bei sich, ohne sie an die Ermittlungsbehörden herauszugeben. Das können zum Beispiel die Daten der Personen sein, die sich in einer bestimmten Zeit in der Nähe des Tatortes aufgehalten haben, oder das soziale Umfeld des Opfers. Schon für die Sicherungsanordnung soll ein Richtervorbehalt gelten – allerdings mit einer Eilkompetenz für die Staatsanwaltschaft. Ein Quick Freeze also.

Bevor Polizei und Staatsanwaltschaft die Daten dann auswerten können, muss erneut ein Richter über den Zugang zu den eingefrorenen Daten entscheiden. Das ist ein rechtsstaatlich sauberes Verfahren und ein Ermittlungsinstrument für die Aufdeckung von Straftaten. Auch der EuGH erwähnt es, in seiner letzten Entscheidung sogar recht prominent. Ich hielte das für einen Gewinn für Freiheit und Sicherheit zugleich – und, wie gesagt, für die Herstellung von Rechtsfrieden in einem Konflikt, der nun schon fast zwei Jahrzehnte andauert.

Wir liberalisieren, drittes und vorletztes Beispiel für unsere Freiheits- und Fortschrittsagenda, das Strafrecht.

Wir werden das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche prüfen. Historisch überholte Straftatbestände brauchen wir nicht.

Morgen im Deutschen Bundestag streichen wir den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches und ermöglichen damit Ärztinnen und Ärzten die sachliche Information über einen Schwangerschaftsabbruch. Schon im letzten Deutschen Bundestag war eine Mehrheit dafür da. Die Große Koalition hat nicht die Kraft gefunden, diese Mehrheit zu akzeptieren. Jetzt tut die Fortschrittskoalition die Arbeit, die längst hätte erledigt werden sollen. Es ist höchste Zeit.

Es ist auch der falsche Ansatz, immer neue Straftatbestände zu schaffen, wenn einem gesellschaftliche Entwicklungen nicht passen.

Ich stimme Ihrer Analyse, der Analyse des Deutschen Anwaltvereins, zu: Neue Straftatbestände oder Strafverschärfungen wecken Hoffnungen, dass man so gesellschaftlicher Missstände Herr würde. Da lauert die Gefahr der Enttäuschung, der Frustration – und letztlich des Vertrauensverlusts in den Rechtsstaat.

Dieser Vertrauensverlust – mein letzter Punkt, der mir heute wichtig ist, auch wenn ich das nur anreißen kann –, droht auch, wenn es uns nicht gelingt, das Recht und den Zugang zum Recht auf die Höhe der kommunikativen Wirklichkeit in diesem Land zu bringen.

Der Respekt vor dem Rechtsstaat leidet, wenn die Verfahren und Arbeitsweisen wirken wie aus der Zeit gefallen.

Die Digitalisierung ist daher ein Schwerpunkt unserer rechtspolitischen Agenda. Und wir haben in den ersten Monaten der Legislaturperiode schon einiges vorangetrieben.

Wir entwickeln ein zivilgerichtliches Online-Verfahren, mit dem wir die Durchsetzung kleiner Forderungen erleichtern wollen.

Zur Audiovisuellen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung wird mir der Referentenentwurf gerade vorgelegt.

Im Gesellschaftsrecht ist die Ausweitung der Möglichkeiten zur Online-Beurkundung und Online-Beglaubigung auf den Weg gebracht. Und ich nenne noch die Verstetigung der virtuellen Hauptversammlung. Beides ist bereits im Bundestag.

Wir wissen, und danken sehr dafür, dass wir in Ihnen für all das innovationsfreudige Partner haben!

Meine verehrten Damen und Herren,

schon Hegel hätte vor 200 Jahren Putins Krieg für einen grausigen Gruß aus der Vergangenheit gehalten. Hegel sah in der Geschichte einen „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Und er glaubte, dass dieser Fortschritt in der eigenen Gegenwart von europäischer Aufklärung, französischer Revolution und preußisch-deutschen Reformen einen Höhe- und Endpunkt erreicht hatte.

Wir wissen längst, und durch Putin wurden wir nun neu daran erinnert, dass das voreilig war. Es gibt kein historisches Gesetz zugunsten von Freiheit und Fortschritt. Sie müssen bewirkt und verteidigt werden durch entschlossene Politik.

Die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen sind kein Auftrag, der irgendwann einmal für immer erledigt ist. Wenn wir deshalb heute fragen, welches Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der digitalen Welt angemessen ist, welches Familienrecht der gesellschaftlichen Wirklichkeit besser entsprechen könnte, oder ob es Minderheiten gibt, denen unsere Rechtsordnung vielleicht noch nicht mit dem angemessenen Respekt gegenübertritt – dann erfüllen wir den ewigen Auftrag unserer Verfassung.

Und wir zeigen denen, die das liberale Modell angreifen, nun erst recht, wie wir leben wollen. Und wir zeigen allen anderen, dass es attraktiv ist, so zu leben!

Zu dieser Attraktivität der Freiheit leisten gerade Sie Ihren großen Beitrag. Sie helfen den Menschen, ihr Recht, ihre Grundrechte durchzusetzen, und erfüllen den Rechtsstaat mit Leben!

Ich danke Ihnen für Ihre unersetzliche Arbeit!

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