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„Der EuGH und die nationalen Gerichte – Kooperation vor aktuellen Herausforderungen“

Grußwort des Ministers zur Eröffnung der Konferenz aus Anlass des 70-jährigen Bestehens des EuGH am 9. September 2022 im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz in Berlin

Rede


Wir feiern mit dieser Konferenz den runden Geburtstag einer der wichtigsten europäischen Institutionen. Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen: Die Europäische Union ist heute so wichtig wie nie.

In ihr bündeln sich die Werte, die uns als liberalen Demokratien und als freiheitlichen Gesellschaften wichtig sind. In ihr haben sich Staaten zusammengetan, die diese Werte gemeinsam noch stärker und sicherer machen wollen.

Und in diesem Jahr ist vollends deutlich geworden, dass das kein Selbstläufer ist, dass das in dieser Welt, wie sie ist, nicht ohne Kampf, nicht ohne Selbstbehauptung geht.

Wir sind als Europäische Union liberaler Demokratien feindlich herausgefordert: militärisch, wirtschaftlich, politisch. Im Inneren durch aggressiven Populismus. Im Äußeren, es wird mit jedem Tag deutlicher, durch einen Aggressor, der uns alle meint und uns alle treffen will. Denn er zielt auf die liberale Ordnung an sich.

Wir können den Angriff nur abwehren, wenn wir es als Europa gemeinsam tun. Recht, Freiheit, Einigkeit – die großen Worte aus der deutschen Hymne; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Werte der bürgerlichen Revolution in Frankreich. Das ist Teil unserer gemeinsamen europäischen Identität – und die lässt sich nur gemeinsam behaupten. Und sie lässt sich nur im Ganzen behaupten – ohne Abstriche.

Diese europäische Institution, deren Geburtstag wir heute feiern, trägt zur Schöpfung, Fortentwicklung und Verteidigung unserer europäischen Identität in diesem Sinne bei – und hat dies nun schon über sieben Jahrzehnte hinweg getan. Der Europäische Gerichtshof hat sich als Förderer von Recht, von Freiheit, von Rechtseinheit in dieser Europäischen Union große Verdienste erworben. Ich bin, wir alle sind, dafür sehr dankbar!

Die Schaffung des Europäischen Gerichtshofs zeigte die Bereitschaft der europäischen Staaten – nach schlimmsten kriegerischen Auseinandersetzungen –, Hoheitsrechte an die EU bzw. ihre Rechtsvorgänger zu übertragen.

Es sollte trotzdem keinen geschichtsbewussten Menschen wundern, dass es auch dann und bei bestem Willen in einer so eigentümlichen politischen Gestalt wie der Europäischen Union nicht immer völlig ohne Reibungen abgeht: Das Selbstbewusstsein der Nationalstaaten bleibt stark, stärker vielleicht als viele Freunde eines europäischen Bundesstaates in den vergangenen Jahrzehnten es gedacht und erwartet haben.

Und dieses Selbstbewusstsein ist ja auch nicht unbegründet. Es ist das Selbstbewusstsein liberaler, rechtsstaatlicher Demokratien mit ihren eigenen historischen Erfahrungen, die eben nur einen Teil ihrer Hoheitsrechte vergemeinschaftet haben.

Und als staatlich-politische Gebilde, so wie sie sind, entfalten sie bis heute die integrative politische Kraft, auf die wir auch angewiesen sind, wenn wir als Zusammenschluss liberaler Demokratien im Systemwettbewerb gegen den Autoritarismus bestehen wollen!

Und deshalb ist es auch überhaupt nicht verwunderlich, dass in dieser Europäischen Union gerade auch auf dem Gebiet des Rechts nicht jene „utopische Synthese“, jene fast konfuzianisch anmutende Harmonie herrscht, die der große Ralf Dahrendorf für liberale Ordnungen überhaupt immer zurückgewiesen hat. Es gibt eben kein Ende der Geschichte wie bei Hegel, Marx oder Fukuyama; und es gibt auch kein Ende der Rechtsgeschichte!

Es komme vielmehr für eine menschliche, liberale, entwicklungsfähige Gesellschaft immer darauf an, so Dahrendorf, die Widersprüche der Normen und Interessen in Spielregeln zugleich zu bewältigen und zu erhalten. Liberale Ordnungen machen Konflikt fruchtbar! Aber sie haben eben auch immer Konflikte.

In dieser Europäischen Union treffen konsolidierte Rechtsordnungen, wie etwa die deutsche, mit ihren eigenen historisch bedingten Maßstäben und Wertentscheidungen, auf eine Rechtsordnung, die immer noch im Werden begriffen ist und für die der Europäische Gerichtshof Verantwortung trägt.

Das führt manchmal zu Disputen. Aber es ist nicht schlimm, wenn Gerichte Dispute haben. Recht in Westeuropa wird ja gerade durch Konflikt geboren, in contradiktorischen Verfahren, in Verhandlungen, die als Disput mit Rede und Gegenrede angelegt sind. Recht ist immer auch Streit, daher heißt das, was wir vor Gericht machen, einen Rechtsstreit zu führen.

Wir sehen daher auch immer mal wieder ein „Streitgespräch der Gerichte“ in Europa zwischen dem EuGH und Verfassungsgerichten der Mitgliedsstaaten und mitunter auch dem EGMR. Diese Formulierung des „Streitgesprächs der Gerichte“ verwende ich bewusst. Einige Jahre meines Lebens habe ich der Erforschung eines dieser Streitgespräche gewidmet, um so meinen Doktortitel zu erwerben. Am Ende dieses Streitgesprächs stand die Entdeckung der Gemeinschaftsgrundrechte. Das zeigt: Konstruktiver Streit trägt mitunter die edelsten Früchte. Daher sollte niemand davor Angst haben.

Ja, der europäische Rechtsverbund ist auf Kooperation angewiesen; aber Kooperation ist nicht immer Harmonie!

Alle Seiten haben dabei ihre Punkte – aber man wird zusammenkommen können, wenn man die Punkte des Anderen im Grundsätzlichen und im Konkreten zu sehen und ernst zu nehmen bereit ist. Der Europäische Gerichtshof hat immer wieder bewiesen, dass er die schöpferische Kraft dazu besitzt.

Es wäre auch, finde ich, erstaunlich gewesen, wenn Vorgänge von solchen Dimensionen wie etwa die EZB-Maßnahmen in der Finanzkrise nicht zu einem gewissen rechtlichen Ruckeln geführt hätten.

Und auch, dass es Gegenstand des produktiven Streitgesprächs bleibt, wer wann prüft und entscheidet, ob europäische Organe in den Grenzen der ihnen übertragenen Kompetenzen bleiben – wen könnte das erstaunen?

Das jüngste Kapitel in diesem Konflikt, das Vertragsverletzungsverfahren, ist ja nun aber geschlossen. Alle sind aufeinander zugegangen. Das ist gut.

Es herrscht wieder jene gewohnte Schwebelage, die ja auch etwas Stabilisierendes hat – so hat es einmal Franz Mayer ausgedrückt, der gleich hier mit Koen Lenaerts und Stephan Harbarth diskutieren wird.

Gerade als liberaler Rechtspolitiker weiß ich: Das Streitgespräch der Gerichte hat in diesen Jahrzehnten schöpferische Kraft entfaltet. Ihm verdanken wir den Ursprung des heute geltenden Grundrechtskatalogs der Europäischen Union.

Die europäischen Grundrechte sind eine innovative Rechtsschöpfung des Europäischen Gerichtshofs. An sie konnte die spätere Grundrechtscharta anknüpfen.

Es war und ist seither ein gutes Zusammenspiel von EuGH und BVerfG beim Grundrechtsschutz. Das BVerfG selbst ist der Ansicht, es schütze die Grundrechte in Kooperation mit dem EuGH.

Das ist zugleich wiederum ein Auftrag – ans BVerfG wie an die anderen Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten: Sie tragen auch für die Zukunft eine große Verantwortung für die Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene – eben weil es dieses besondere Verhältnis von Kooperation und Orientierungsbereitschaft gibt.

Ich fühle mich als liberaler Rechtspolitiker seit Jahren vom EuGH unterstützt. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Die Entscheidungen etwa zur Vorratsdatenspeicherung zitiere ich nach wie vor gern – muss das aber ja nicht mehr allzu lange tun!

Denn wir werden ja die Vorratsdatenspeicherung, die bei uns in Deutschland im Gesetz steht, in ihrer heutigen Form beenden, weil wir in ihr einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte sehen: Denn er betrifft auch unbescholtene User und kann das Gefühl erzeugen – so hat es eben der Europäische Gerichtshof formuliert –, dass unser Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist.

Und gerade Anfang April hat der EuGH erneut die Bedeutung der Grundrechte im digitalen Raum bekräftigt und uferlosen Datenspeicherungen eine klare Absage erteilt. Eine zeitgemäße Strafverfolgung braucht präzise und grundrechtsschonende Ermittlungsbefugnisse.

Deshalb werden wir an die Stelle der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung ein Quick Freeze-Verfahren setzen – als Ermittlungsinstrument ein rechtsstaatlich sauberes Verfahren, das auch der EuGH erwähnt hat, in seiner letzten Entscheidung sogar recht prominent. Wir sind jetzt sehr gespannt auf das Urteil in zwei Wochen!

Meine Damen und Herren,
der Europäische Gerichtshof hat die Verantwortung für eine Rechtsordnung im Werden. Und er trägt sie und wird sie weiter tragen.

Ich sage meinen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Und ich wünsche nun eine ertragreiche Konferenz, auf der Sie die von mir angedeuteten Fragen konstruktiv durchsprechen werden. Sie werden also das produktive Streitgespräch der Gerichte live vorführen!

Herzlichen Dank!

‒ Es gilt das gesprochene Wort! ‒

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