Vor diesem Publikum kann man als Begrüßender, was die Vollständigkeit angeht, nur scheitern. Ich müsste einfach jede und jeden von Ihnen namentlich begrüßen.
Hoher Besuch ist in diesem Haus nicht ungewöhnlich; dass aber drei Gerichtspräsidentinnen und zwei Gerichtspräsidenten, von Verfassungsgerichtshöfen und Bundesgerichten, dass zudem die unbestreitbar besten Kenner des zu verhandelnden Themas sich gleichzeitig hier eingefunden haben – das ist dann doch etwas Außerordentliches und es zeigt: hier geht es um Einiges. Für uns Juristinnen und Juristen geht es sogar ums Ganze, um unseren Berufsstand und darum, wie wir unseren Beruf ausüben.
Ich danke Ihnen allen sehr, dass Sie heute gekommen sind zu dieser Veranstaltung, die das BMJ gemeinsam mit dem Memorium Nürnberger Prozesse ausrichtet. Über den Nürnberger Juristenprozess wollen wir heute sprechen und über seine Bedeutung für das juristische Berufsethos.
Der Nürnberger Juristenprozess begann am 4. Januar 1947 mit der Erhebung der Anklage und endete mit der Urteilsverkündung am 3. und 4. Dezember desselben Jahres. 16 Beschuldigte waren der schwersten Verbrechen angeklagt. Es kam zu Freisprüchen. Aber auch hohe Gefängnisstrafen wurden verhängt. Allerdings: Keiner der Verurteilten musste seine volle Haftstrafe verbüßen. Zwischen 1950 bis 1957 wurden sie begnadigt oder aus der Haft entlassen.
Ich will hier nicht über den Prozess im Einzelnen sprechen, auch nicht über die juristischen Berufswege der Verurteilten – man stelle sich das vor – auch noch in der Bundesrepublik. Dazu werden wir gleich gemeinsam den Film anschauen. Ich möchte einleitend nur kurz etwas Allgemeines sagen über die Juristen und ihr Verhältnis zum Recht und zum Unrecht.
Vor Kurzem war ich in Hamburg. Über dem Eingang des dortigen Oberlandesgerichts, einem beeindruckenden neoklassizistischen Gebäude, steht der Satz: „Ius est ars boni et aequi“ – „Das Recht ist die Kunst vom Guten und Gerechten“. Sie kennen den Satz, Ulpian schreibt ihn Celsus zu. Ich glaube, alle Juristinnen und Juristen können dieser Definition zustimmen. Sie hat ihren Platz in jedem Juristenbrevier.
Die Männer, um die es gleich in dem Film gehen wird – auch sie werden diesen Satz gekannt haben. Und sie werden auch Ulpians Herleitung gekannt haben: „unde nomen iuris descendat. est autem a iustitia appellatum“ – das Recht aber ist nach der Gerechtigkeit benannt.
Und trotzdem haben diese 16 – und sie waren natürlich bei weitem nicht die einzigen Juristen – mit dem schlimmsten Unrechtsregime paktiert, haben ihm gedient und in seinem Namen Menschen enteignet, ins Gefängnis gesteckt, zum Tode verurteilt oder ins KZ geschickt.
Viele haben sich nach 1945 gerechtfertigt, indem sie sich als „Techniker des Rechts“ bezeichneten; und sie wurden auch von anderen, auch von respektablen Persönlichkeiten wie dem ersten Staatssekretär im BMJ, Walter Strauß, selbst ein Opfer des Regimes, entschuldigend so gesehen: nüchtern, sachlich und streng logisch die Regeln anwendend, der Ordnung verpflichtet; einen „Schatz an Erfahrungen“, so Strauß, hätten diese Beamten aus dem NS-Reichsjustizministerium mitgebracht.
Zu beurteilen, was gut und gerecht sei, sahen diese Juristen dagegen nicht als ihre Aufgabe. Für das Recht einzustehen, sich dem Unrecht entgegenzustellen, das war eben nicht Teil ihres Berufsethos.
Wir Juristen neigen ja, wenn ich das mal so selbstkritisch sagen darf, eher zum Rechthaben als zum Widerspruch, wir sind selten Rebellen oder gar Revolutionäre, und meistens schließen wir uns in unserem Verhalten der Mehrheit an, die wir die herrschende Meinung nennen. Das mag in einem funktionierenden liberalen Rechtsstaat teils sogar sinnvoll sein – mit Revolutionären kann man vielleicht einen Staat machen, aber schwerlich einen aufrechterhalten. Wenn der Rechtsstaat aber erodiert, wenn er sich zu einem Unrechtsstaat wandelt, eventuell auch noch getragen von der Mehrheit, dann ist eine solche Haltung katastrophal.
Wann ein Rechtstaat zu einem Unrechtsstaat wird, scheint in der Rückschau nicht schwer zu beurteilen. Das ist der benefit of hindsight, der jedoch oft vergessen lässt, dass für die Menschen der damaligen Zeit die Dinge nicht so eindeutig sein konnten.
Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Unrecht nicht eindeutig zu erkennen gewesen wäre, aber den Weg dorthin, die Entstehung der Strukturen, die schleichende Veränderung der Mentalität, die solche Strukturen trägt – um das zu erkennen, bedarf es eines wachen und empfindlichen Geistes.
Wir hoffen, dass man diesen Geist schulen kann. 2012 hat die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine Unabhängige Wissenschaftliche Kommission eingesetzt, die die Geschichte dieses Hauses in den Jahren 1950 bis 1973 erforschen sollte, als das Ministerium seinen Sitz in der Rosenburg in Bonn-Kessenich hatte.
Eine der Konsequenzen aus den Erkenntnissen, die man durch das „Rosenburg-Projekt“ gesammelt hat, ist die Neufassung des § 5a Deutsches Richtergesetz gewesen, der am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist. In Absatz 2 Satz 3 heißt es nun: „die Vermittlung der Pflichtfächer erfolgt auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur.“
„… in Auseinandersetzung mit“, das bedeutet nicht in einem eigenen Geschichtskurs, sondern anhand konkreter Fälle, die die Manipulierbarkeit juristischer Methodik und die Ideologieanfälligkeit von Recht besonders deutlich machen, etwa, wenn bei der Störung des Hausfriedens auf einmal die jüdische Abstammung eine Rolle spielt.
Was wollen wir damit erreichen? Der Publizist Johannes Groß bemerkte einmal giftig, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus seit 1945 von Tag zu Tag wachse; er meinte, dass sich eine moralische Selbstgewissheit breitmache, die sich nicht an der Wirklichkeit, sondern nur an der Hypothese zu beweisen hätte.
Das Gefühl moralischer Gewissheit in den Studentinnen und Studenten hervorzurufen, kann das Ziel selbstverständlich nicht sein. Nötig ist vielmehr, was Fritz Bauer als eine wesentliche Aufgabe des juristischen Studiums bezeichnet hat: „Der Jurist, den wir heute brauchen, muss unsicher gemacht werden. [...] Die innere Unsicherheit, die Problematik seines Kampfes um das Recht muss ihm an der Universität beigebracht werden. […] Er muss hineingestellt werden in die ganzen Schwierigkeiten unserer Zeit.“
Auf dieser Grundlage, also, wenn man so will, auf unsicherem Boden muss das juristische Berufsethos gebildet werden. Das durch technische Auslegung vielleicht vertretbare Ergebnis muss den Lackmus-Test am Maßstab materieller Gerechtigkeit bestehen. Deshalb steht über der Arbeit der Juristen, gleichsam als bestirnter Himmel: „Ius est ars boni et aequi.“
Ich freue mich auf diesen Abend!