Sehr geehrter Herr Präsident Korbmacher,
sehr geehrte Richterinnen und Richter am Bundesverwaltungsgericht,
Gerichtspräsidentinnen und Gerichtspräsidenten – auch aus europäischen Partnerstaaten,
Kolleginnen und Kollegen Justizminister der Länder,
Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich freue mich sehr, heute hier zu sein.
Und ich danke Ihnen für die Einladung, zu diesem besonderen Anlass hier sprechen zu dürfen.
„Das ist das mit dem schönen Gebäude!“ – So sagt man ja, wenn man in diesem Land jemandem auf die Sprünge helfen will, der nicht sofort weiß, welches Gericht mit dem Bundesverwaltungsgericht gemeint ist.
Denn das oberste Verwaltungsgericht residiert sicher im schönsten Gerichtsgebäude unseres Landes.
Schön ist nicht nur das Gebäude, sondern auch der Anlass unserer Zusammenkunft: der 70. Geburtstag dieser wichtigen Institution des Bundesverwaltungsgerichts.
Ich will Ihnen zu diesem Geburtstag ein paar Gedanken entwickeln. Es sind natürlich freundliche Gedanken, natürlich, die sich mir im Nachdenken über Sie vor diesem Festakt einstellten.
I.
Erstens: Sie sind für mich ein wacher und gestaltender Begleiter der Entwicklung unseres Landes – ein wacher und gestaltender Begleiter des ganz konkreten Lebens in diesem Land.
Nichts könnte ja eben falscher sein als die Vorstellung, Sie operierten hier in trockener, fachjuristischer Lebensferne.
Nein, Entscheidungen gerade zuletzt wie die Unverhältnismäßigkeit der Corona-Ausgangsperre in Bayern, der Versammlungsschutz von Protestcamps oder die Feststellung, dass auch eine Pause zur Arbeitszeit zählen kann – solche Entscheidungen stehen gerade für die Lebensnähe der Fälle, die hier verhandelt werden.
Ihre Zuständigkeiten für das Immissionsschutzrecht, das Planungsrecht, das Informationsfreiheitsrecht, Ihre Urteile zum Dieselfahrverbot oder zur Bereinigung von SED-Unrecht – all das zeigt: Sie beantworten brennend interessierende, brennend wichtige, brennend aktuelle Fragen.
Die Zuständigkeiten Ihrer Senate sind ein Katalog dessen, was in diesem Land zwischen Bürger und Staat überhaupt streitig sein kann.
Sie stehen in engstem Kontakt zu den jeweils wichtigsten Entwicklungen in unserem Land.
Man versteht auch all diese gesellschaftlichen Entwicklungen besser, wenn man die Leitsätze, die tragenden Gründe der Entscheidungen dieses Gerichtes liest.
Horst Sendler, der frühere Präsident dieses Gerichtes, hat einmal gemeint, hier würden zu viele „Mini-Dissertationen“ verfasst. Er meinte das liebevoll-kritisch – ich will das an Ihrem Geburtstag nur freundlich verstehen.
Es ist eben so: Sie müssen sich immer wieder in Neues einarbeiten, zuhören, lesen; Sie müssen Schritt halten mit allem Neuen in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik.
Dafür, dass Sie das auf so hohem Niveau beständig tun, möchte ich Ihnen an diesem feierlichen Tage von Herzen danken!
II.
Hohe Qualität braucht Zeit.
Sie ahnen natürlich, warum ich das hier sage.
Ich habe überlegt, ob ich zum Geburtstag heute über unsere jüngsten Bemühungen zur Verfahrensbeschleunigung spreche. Sie besetzen selbst ein Podium heute dazu. Da will auch ich mich nicht drücken.
„Beschleunigung um jeden Preis – Bleibt der Rechtsschutz auf der Strecke?“ – fragen Sie auf diesem Podium.
Ich will natürlich nicht vorgreifen, finde aber: Nein! Das bleibt er nicht! Und: Nein, Beschleunigung natürlich nicht um jeden Preis!
Ich denke nach wie vor, dass die Änderungen, die wir vorgeschlagen und beschlossen haben, Schritte auf dem Weg zu einer Beschleunigung der Gerichtsverfahren im Infrastrukturbereich sind – nicht mehr und nicht weniger.
Und ich denke auch nach wie vor, dass mit den Änderungen der effektive Rechtsschutz gleichwohl vollumfänglich gewährleistet bleibt.
Auch ein straffes Gerichtsverfahren steht dem nicht im Weg.
Ich will in aller Kürze noch einmal erläutern, um welche einzelnen Änderungen es da ging.
Wir geben jetzt den Gerichten die Möglichkeit, herausragend wichtige Projekte zu priorisieren, um dort schneller zu Entscheidungen zu kommen.
Wir geben den Gerichten die Möglichkeit zu beschleunigen, wenn offenkundig kleinere Mängel vorliegen, die selbstverständlich beseitigt werden.
Wir ermöglichen einen frühen ersten Termin, um die Verhandlung früh gut zu strukturieren und früh auch die Möglichkeiten für eine gütliche Einigung auszuloten.
Wenn eine Maßnahme reversibel ist, soll man schon einmal mit ihr beginnen können, auch wenn die endgültige Entscheidung noch nicht da ist – weil eben das Risiko eines bleibenden Schadens überschaubar ist.
Und wir haben geregelt, dass die klägerische Seite ihre Argumente sofort komplett auf den Tisch legt. Das soll nicht mehr scheibchenweise geschehen. Sondern jeder soll seine Argumente sofort präsentieren – also das, was man prozessuale Präklusion nennt.
Der größere Zusammenhang dieser Bemühungen um schnellere Verfahren liegt auf der Hand:
Wir müssen die Energiewende schnell ins Werk setzen – aus ökologischen Gründen, aber auch aus sicherheitspolitischen. Das sollten wir gelernt haben im letzten Jahr.
Und wir müssen auch insgesamt die Infrastruktur in diesem Land schneller erneuern. Auch der neue Planungssenat hier beim Bundesverwaltungsgericht wird künftig seinen Beitrag zu dieser Beschleunigung leisten, die wir so dringend brauchen.
Qualität braucht Zeit. Zeit selber ist aber auch eine Qualität. Das Bundesverfassungsgericht mahnt uns alle, dass wir die Lasten der Energiewende nicht auf die nächste Generation allein verschieben können. Daher wollen wir Tempo machen bei der Erneuerung unseres Landes. Und auch das ist ein rechtsstaatlicher Gemeinwohlbelang.
III.
Mein zweiter Grund, Ihnen heute zu gratulieren, ist:
Dieses Gericht verkörpert unseren Rechtsstaat. Sie stehen ein für die Freiheit und das Recht jedes einzelnen Bürgers, jeder einzelnen Bürgerin, und zwar eben auch gegenüber dem Staat. Sie stehen bereit zu prüfen, ob auch der Staat das Recht gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern einhält.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte ja ein Bürger, der von einer Verwaltungsentscheidung betroffen war, nicht mehr als eine Selbstkontrolle der Behörde erreichen.
Mich hat in der Vorbereitung jetzt wieder das Detail gefreut, dass es eben die Paulskirche war, deren 175. Jubiläum wir in diesem Jahr feiern, die festsetzte: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf“ – das hieß: die bloß innerbehördliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen hört auf, und: „über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte!“
Und trotz des tragischen Scheiterns der Paulskirche ist auch dieser Impuls nicht unwirksam geblieben.
In den Jahren nach 1849 wurde in den Ländern nach und nach die eigene Streitentscheidungsbefugnis der Behörden abgeschafft und die Kontrolle staatlichen Handelns auf unabhängige Richter übertragen.
Durchgesetzt in den damaligen Diskussionen hatte sich damit Rudolf von Gneist –
einer jener großen Liberalen des 19. Jahrhunderts, auf die wir als Land stolz sein dürfen:
in der ganzen Breite seines Schaffens von der Verfassungsarbeit bis zur Sozialpolitik;
verwurzelt in der Wissenschaft wie in der richterlichen Praxis;
engagiert für das Gemeinwohl in einer Vielzahl von Vereinen.
Der badische Verwaltungsgerichtshof in Karlsruhe war, wie Sie wissen, dann 1863 der erste – vor 160 Jahren: auch dies ein Jubiläum!
Jeder Einzelne kann den Staat vor Gericht bringen – eben vor das Verwaltungsgericht!
Was für eine Aussage! Was für eine zivilisatorische Leistung!
Ohne das Vertrauen, dass die Staatsgewalt Grenzen hat, kann unsere liberale Demokratie nicht leben, nicht überleben.
Ohne das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Kompetenz der Verwaltungsgerichte, diese Staatsgewalt zu kontrollieren, verlöre das Gemeinwesen seine Balance.
Es ist ja nicht so, dass die Bürgerinnen und Bürger der Politik und dem Staat immer sofort, total und blind vertrauen.
Das ist auch ihr gutes Recht.
Und das ist überhaupt gut so – für den nötigen Streit, für Debatte und Fortschritt und für immer noch bessere Lösungen.
Aber dass sie Ihnen vertrauen, Ihrer Prüfung des aus Politik folgenden Verwaltungshandelns – das ist essentiell.
Ihre Aufgabe als Bundesverwaltungsgericht, als Verwaltungsrichter ist es, die Exekutive zu mäßigen; individuelle Freiheit zu sichern; die Gleichheit vor dem Gesetz zu wahren.
Sie haben „die Aussage des Gesetzes für den Einzelfall gegenwartsgerecht zu deuten“, so sagte es Paul Kirchhof einmal – und dies gerade in den Fragen, die für die Allgemeinheit insgesamt von erheblicher Bedeutung sind.
Sie ergänzen und vervollständigen das Gesetz.
Paul Kirchhof wieder hat sehr schön formuliert: Der Gesetzestatbestand bedürfe Ihres „entwicklungsbegleitenden Nach-Denkens“. Sie denken den Gesetzesgedanken zunächst nach und dann auch weiter.
Insofern garantieren Sie auch die Zukunftsoffenheit des Rechtsstaates und die Zukunftstauglichkeit der in ihm geltenden Gesetze.
IV.
Um die Zukunftsfähigkeit des Rechtsstaates machen Sie sich übrigens auch verdient durch die Selbstverständlichkeit, mit der Sie Ihre tägliche Arbeit für die Digitalisierung öffnen.
Das muss ich hier unbedingt lobend einschieben. Und auch das Thema selbst muss ich hier einschieben, weil mir als Bundesjustizminister dieser Wandel wirklich wichtig ist.
Wir haben uns ja da in dieser Legislaturperiode für die Justiz und das Recht viel vorgenommen.
Manches davon steht schon im Gesetzblatt: Online-Gründungen von GmbHs, Handelsregisteranmeldungen per Video oder die virtuelle Hauptversammlung von Aktiengesellschaften.
Das Bundesgesetzblatt ist seit dem 1. Januar rein elektronisch. Und mit dem frühzeitigen „Digitalcheck“ sorgen wir seit Jahresbeginn dafür, dass neue Gesetze digitaltauglich werden.
Anderes haben wir gerade veröffentlicht und diskutieren wir – wie Entwürfe zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung und zur Förderung von Videokonferenztechnik in den Zivil- und Fachgerichtsbarkeiten.
Gerade hatten wir den zweiten Bund-Länder-Digitalgipfel in Berlin, wo wir unsere gemeinsame Digitalisierungsinitiative weiter vorangetrieben haben.
200 Millionen Euro Bundesgeld stellen wir dafür in den kommenden Jahren zur Verfügung.
Die ersten Mittel für konkrete Projekte sind gerade vom Haushaltsausschuss des Bundestages freigegeben – etwa für die Entwicklung und Erprobung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens für viele gleichgeartete kleine Forderungen oder für das Vorhaben einer digitalen Rechtsantragsstelle.
Meine Damen und Herren,
warum das alles?
Es darf nicht sein, dass Lebens- und Arbeitswelt der Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert stattfinden – und beim Kontakt mit dem Staat und Justiz glaubt man sich im 19. Jahrhundert zu befinden.
Nur ein Rechtsstaat, der auch technisch auf der Höhe der Zeit ist, wird dauerhaft eine hohe Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern genießen.
Und es geht um Arbeitsfähigkeit – und um Arbeitsqualität.
Sie gehen hier in Leipzig Ihren eigenen Weg mit großem Erfolg.
Fast alle Senate hier arbeiten heute schon mit der Elektronischen Gerichtsakte. Die gesetzliche Verpflichtung, das zu tun, werden Sie insgesamt wohl deutlich vorfristig erfüllen.
Die Verwaltungsakten führen Sie bereits seit 2012 ausschließlich elektronisch.
Hier war eine kluge Projektführung am Werk.
Es ist Ihnen offenbar gelungen, alle einzubeziehen in diesen großen Transformationsprozess – der es ja ist!
Und mitunter haben Sie digitale Werkzeuge sogar selbst entwickelt – wie das Justizfachsystem GO§A.
Sie sind auch das verantwortliche Haus für die Errichtung eines „Länderservers“ zur Online-Akteneinsicht, der allen Bundesgerichten sowie dem Generalbundesanwalt zur Verfügung gestellt wird.
Meine Damen und Herren,
Sie fördern also in mehrfacher Hinsicht die Zukunftsfähigkeit und -tauglichkeit des Rechtsstaates!
V.
In diesem Rechtsstaat, mein letzter Gedanke heute, können die Gewalten nur gemeinsam Ihre Aufgaben erfüllen.
In der Ordnung der liberalen Demokratie interpretieren wir die Gewaltenteilung nicht als eifersüchtige Behauptung des jeweils eigenen Terrains.
Ja, die Gewalten sind getrennt – und sie begrenzen und balancieren einander.
Aber ihre Trennung ist nicht das letzte Wort. Sie sind aufeinander zugeordnet und arbeiten zusammen, um das höchste gesellschaftliche Ziel überhaupt zu erreichen: die Bewahrung der freiheitlichen Ordnung.
Recht, Freiheit und Demokratie kann es nur in dieser vollständigen Trias geben. Die Mehrheit kann auf Abwege der Unfreiheit führen. Die Exekutive kann die Grenzen des Rechts überschreiten. Die Freiheit ist nicht viel wert, wenn sie nicht auch konkret rechtlich geschützt ist. Und das Recht bliebe ohne Akzeptanz und Legitimation, wenn es seine Bindung an das demokratische Prinzip verlöre.
An diesem Gericht wird diese Trias aus Recht, Freiheit und Demokratie zusammengehalten.
Deshalb bin ich hier bei Ihnen heute und danke Ihnen und wünsche diesem Gericht viele weitere Jahrzehnte des heilsamen Wirkens für Freiheit und Recht in diesem Land!