Haben Sie vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr, hier zu sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Rosch Haschana ist in Deutschland sicher nicht das bekannteste jüdische Fest. Doch scheint mir gerade dieses Fest zu allen zu sprechen: natürlich zu den Jüdinnen und Juden, aber auch zu Andersgläubigen und zu Nichtgläubigen.
Die zehn Tage von Rosch Haschana hat der Rabbiner und Religionswissenschaftler Arthur Hertzberg einmal als die „erhabensten Tage des Jahres“ bezeichnet. Nach traditioneller Vorstellung werden in diesen zehn Tagen die Menschen vor Gottes himmlischem Thron gerichtet.
Es sind Tage der Reue, aber auch Tage des Glaubens, dass Gott diese Reue akzeptieren und dass er vergeben werde.
Auch das Christentum kennt Reue und Vergebung.
Auch der Islam kennt Reue und Vergebung.
Und auch wer einer anderen Religion oder keinem Glauben anhängt, wird sich eingestehen müssen:
Alle Menschen machen Fehler, die meisten bedauern sie – und viele von ihnen hoffen, dass sie ihnen verziehen werden. Reue und Vergebung gehören zum Menschen.
Rosch Haschana ist also ein ernstes Fest. Aber es ist auch eines der Zuversicht: Wir machen Fehler, aber durch unsere Einsicht in diese Fehler kann uns vergeben werden.
Wir müssen nicht vollkommen sein, um uns angenommen zu fühlen.
Im Talmud heißt es, dass „an der Stelle, da reuige Sünder stehen, vollkommene Heilige nicht stehen können“. Das ist es, was mich am Judentum immer wieder beeindruckt: Die Sympathie mit dem Unperfekten, mit dem Komplizierten des Lebens. Folge dieser Einsicht ist nicht die Verzweiflung oder die Wut, sondern der Wille zur Vergebung.
Niemand hat zu bestimmen, wie weit dieser Wille reichen muss, denn niemand hat zu bestimmen, was zu vergeben ist und was nicht. Die deutsche Politik und Gesellschaft haben allerdings darauf hinzuwirken, dass Dinge, die nur schwer zu vergeben sind, sich gar nicht erst ereignen.
Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Das ist eine Schande. Dass Jüdinnen und Juden sich in diesem Land nicht sicher fühlen, können und dürfen wir niemals akzeptieren.
Die Bundesregierung hat daher im November letzten Jahres die Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben beschlossen. Sie ist die erste Strategie der Bundesregierung, die ausschließlich der Bekämpfung von Antisemitismus und der Förderung jüdischen Lebens gewidmet ist.
Ich glaube, das ist besonders wichtig, und wir haben es zu lange vernachlässigt: jüdischem Leben noch mehr Möglichkeiten zu geben, sich zu zeigen, hörbar und sichtbar zu sein.
Denn die größere Sichtbarkeit jüdischen Lebens bereichert nicht nur unsere liberale Gesellschaft. Wenn Antisemitismus – wie Adorno einmal gesagt hat – das „Gerücht über die Juden“ ist, dann ist ein lebendiges, in der Öffentlichkeit präsentes Judentum das beste Gegenmittel.
Singen, Tanzen, Fröhlich-sein gehören dazu. Und, lieber Rabbi Teichtal, genau das tun Sie ja auch: Immer positiv sein! Ihre Aufforderung habe ich von unseren Treffen immer im Ohr!
Der Schriftsteller Saul Bellow hat geschrieben, dass Unterdrückung nie von großer Präzision sei: Wenn man eine Sache unterdrücke, unterdrücke man auch die daneben – if you hold down one thing you hold down the adjoining.
Denen, die Antisemitismus dulden, weil sie meinen, es betreffe sie ja eh nicht, müssen wir daher klarmachen: Der Antisemit ist ein Judenfeind – und er ist ein Menschenfeind, ja ein Menschheitsfeind.
Wer eine Gruppe Menschen unterdrückt, der unterdrückt bereitwillig auch eine andere Gruppe.
Unsere Menschlichkeit zeigt sich in unserer Verschiedenheit. Es gibt keinen Antisemiten, der sich an dieser Verschiedenheit erfreuen könnte. Es gibt keinen Antisemiten, der sich an der Menschlichkeit erfreuen könnte.
Sie, die jüdische Gemeinde Chabad, tun seit Jahrzehnten sehr viel für die Sichtbarkeit jüdischen Lebens. Dafür bedarf es mitunter des Mutes, wie Sie selbst aus leidvoller Erfahrung wissen. Es ist Pflicht und Aufgabe der Politik, es ist Pflicht und Aufgabe der ganzen Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass es dieses Mutes eines Tages nicht mehr bedarf.
Aber es ist nicht nur Pflicht und Aufgabe.
Mit Blick in den Abgrund der deutschen Vergangenheit müssen wir Deutsche sagen: Es ist ein Privileg, es ist ein Geschenk, dass es jüdisches Leben in Deutschland gibt und dass wir dieses Leben schützen und fördern und, wie ich heute Abend, an ihm teilhaben dürfen.
Welch ein Glück ist es, diese Vielfalt in unserem Land zu haben, welch ein Glück, dass Rosch Haschana auch in Deutschland gefeiert wird!
Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen ein gutes und süßes Jahr: Schana towa umetuka!