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Rede am Anne Frank Tag im Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Berlin am 12. Juni 2024

Rede des Bundesministers der Justiz, Dr. Marco Buschmann, am Anne Frank Tag im Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Berlin am 12. Juni 2024

Rede


Haben Sie vielen Dank für die Einladung zu dieser besonderen und wichtigen Veranstaltung.

Man hört ja manchmal, dass das Interesse an der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit erlahme, gerade unter Schülerinnen und Schülern;
dass ein Überdruss bestehe an der Beschäftigung mit den schlimmsten Verbrechen der Geschichte;
dass man von dem Leid und dem Schrecken, den Deutsche über die europäischen Juden und die ganze Welt gebracht haben, nichts mehr hören wolle.
Es bestehe vielmehr das Bedürfnis nach einem Schlussstrich; Vergangenes solle endlich vergehen.

Es sind Veranstaltungen wie diese, die das Gegenteil beweisen. Sie, die Organisatorinnen und Organisatoren und die Schülerinnen und Schüler der fast 600 teilnehmenden Schulen, beweisen das Gegenteil.

Wir brauchen solche Veranstaltungen, wir brauchen die Auseinandersetzung, die Beschäftigung mit unserer Geschichte. Wir brauchen schlicht das Wissen über das, was damals geschehen ist. Dafür sorgen Sie, indem Sie sich auf die Spur der Geschichte begeben, und dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.

Vor zwei Wochen sollen drei Jugendliche, 15 und 16 Jahre alt, eine Ausgabe von Anne Franks Tagebuch verbrannt haben. Sie werden davon gehört haben.
Was genau passiert ist, werden die Ermittlungen zeigen. Ich habe mich als Bundesjustizminister zu einzelnen Fällen nicht zu äußern.
Aber ich frage mich: Hatten diese drei Jugendlichen das Buch gelesen? Ich kann es mir kaum vorstellen.

Hätten sie es gelesen, so hätten sie Sätze lesen können wie: „Ich habe eine glückliche Natur, ich liebe die Menschen, bin nicht misstrauisch und will alle mit mir zusammen glücklich sehen.“ Oder: „Jeden Tag fühle ich, wie mein Inneres wächst, wie die Befreiung naht, wie schön die Natur ist, wie gut die Menschen in meiner Umgebung, wie interessant und amüsant dieses Abenteuer.“

Hätten Sie es gelesen, so hätten sie von einem sehr gescheiten Mädchen erfahren, einem Mädchen von hoher Auffassungsgabe und großem schriftstellerischen Talent. Aber doch auch von einem Mädchen, das die ganz gewöhnlichen Sorgen und Sehnsüchte von 13- und 14-jährigen kennt; ein Mädchen, das sich mit den Eltern und der Schwester streitet und wieder versöhnt, das sehr selbstbewusst und dann wieder sehr unsicher ist, das sich verliebt, das wütet und verzweifelt und dann wieder fröhlich und hoffnungsvoll ist.
Ein heute weltberühmtes Mädchen, das in der Normalität ihres Alters lebte – und zugleich im Abgrund des Schreckens.

Ich glaube, es ist diese Normalität, die uns Anne Frank so nah scheinen lässt. Und es ist der Schrecken, innerhalb dessen sich diese Normalität abspielt, der Annes Schicksal so traurig und bewegend macht.

Wenn die drei Jugendlichen, die das Buch verbrannt haben sollen, es gelesen hätten, dann hätten sie auch feststellen müssen: Es gibt keine Verantwortung Annes für das, was ihr widerfährt. Es wird ihr angetan, ohne dass sie je etwas getan hätte. Hier ist eine Jugendliche, die nichts weiter möchte, als ein normales Leben leben, und dieses Leben wird ihr genommen, und zwar in jeder Hinsicht.

Ich glaube, deswegen ist dieses Buch so geeignet, um über die Ursache des Antisemitismus aufzuklären. Denn hier wird es doch eindeutig: Die Ursache liegt nicht bei den Juden. Die Ursache des Antisemitismus sind die Antisemiten. Daher ist es so richtig, wenn man sagt, Antisemitismus sollte nicht das Problem der Juden sein, sondern der Antisemiten.

Leider wissen wir, dass Antisemitismus ein ganz reales Problem für Jüdinnen und Juden ist. Dieses Problem besteht nicht erst seit dem 7. Oktober letzten Jahres, als die Hamas ihren massenmörderischen Terroranschlag verübte und fast 1200 Menschen tötete und über 240 entführte.
Aber seit dem 7. Oktober 2023 ist die Zahl antisemitischer Vorfälle stark gestiegen. Es ist die schlimmste Welle des Antisemitismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so hat eine Studie der Universität Tel-Aviv ergeben. Wir merken das auch in Deutschland.

In Berlin wurden über 60 Prozent aller antisemitischen Vorfälle des Jahres 2023 zwischen dem 7. Oktober und dem Jahresende gemeldet. 783 waren es, in nur knapp drei Monaten!
Auch an den Schulen häufen sich die Vorfälle. Antisemitische Graffiti auf den Toiletten, das Wort Jude als Schimpfwort, antiisraelische Parolen: Auch das kannte man leider schon vorher, aber es hat zugenommen, die Aggressivität hat zugenommen.
Jüdinnen und Juden haben Angst, sie ziehen sich zurück. Jüdisches Leben ist weniger sichtbar geworden in Deutschland.
Das ist fatal. Denn gerade jetzt brauchen wir diese Sichtbarkeit.

Bereits im November vorletzten Jahres hat die Bundesregierung die „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben beschlossen“.

Ich glaube, dieses „für“, das „für jüdisches Leben“, ist ganz entscheidend.

Wir müssen jüdischem Leben noch mehr Möglichkeiten geben, sich zu zeigen, hörbar und sichtbar zu sein.

Der Wiederaufbau von Synagogen, der Bau einer Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main und die Errichtung des Pears Jüdischen Campus hier in Berlin: Das sind großartige Beispiele eines präsenten jüdischen Lebens in unserer Gesellschaft.

Gegen Vorurteile hilft Aufklärung, und Aufklärung muss im offenen, in der Öffentlichkeit stattfinden. Deswegen brauchen wir die Sichtbarkeit jüdischen Lebens jetzt erst recht.

Natürlich muss der Staat dieses Leben auch ganz konkret schützen. Wir tun das mit entsprechenden polizeilichen Maßnahmen und verfolgen antisemitische Straftaten mit allen Mitteln, die uns das Strafrecht zur Verfügung stellt.

Doch der Staat und seine Behörden allein werden den Antisemitismus nicht wirksam bekämpfen können. Gerade das Strafrecht ist an Schulen selten das geeignete Mittel. Es bedarf hier der Gesellschaft, es braucht das Engagement jeder und jedes Einzelnen.

Es braucht Aktionstage wie diese, die zur Auseinandersetzung mit der Geschichte einladen, kritisches Denken fördern und Wissen weitergeben. Wir alle sind Ihnen, Frau Winkelmann, sehr dankbar, dass Sie heute da sind, um Ihr Wissen weiterzugeben.

Es braucht das Hinschauen, das Widersprechen, das Zur-Seite-stehen. Das ist nicht immer einfach, das kostet manchmal Überwindung. Aber wir sind es unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern schuldig, wir sind es uns selbst schuldig.

Vielleicht können wir uns dabei das zu eigen machen, was – wie Anne Frank im April 1944 in ihr Tagebuch schrieb – das wichtigste ist: „Mut und Fröhlichkeit“.

Herzlichen Dank!

‒ Es gilt das gesprochene Wort! ‒

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